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Gegenwart der Toten

In seinem neuen Roman „Alles, was ich liebte“ schreibt der Schriftsteller Aharon Appelfeld über die kurze Kindheit eines Juden in Czernowitz

von MARIE LUISE KNOTT

„Alles, was ich liebte“ – der Titel des neuen Romans des israelischen Schriftstellers Aharon Appelfeld ist unvollständig. Man fragt sich, wie der Satz weiterginge, wenn er, was der Satzduktus nahe legt, weitergehen würde. Darin liegt ein Geheimnis seines Schreibens: Appelfelds Aussparungen animieren den Leser, in der eigenen Vorstellung das Geschehene in sich lebendig werden zu lassen. „Alles, was ich liebte, ist dahin“, kann man sich als Leser den Satz vervollständigen, denn in der Tat: Für den Ich-Erzähler, den 9- oder 10-jährigen Paul Rosenfeld, ist alles, was er in der Kindheit liebte, am 6. Juni 1938 bereits „dahin“ – er wird in ein Waisenhaus verbracht. Die Geschichte seiner Kindheit, die an diesem Tag endet, ist das Gegenteil von Kindheit. Kein Plappern und kein Tollen mit anderen Kindern, keine unschuldiges „Mir gehört die Welt“ und kein Stapfen in irgendeiner Tradition.

Paul wächst heran in Czernowitz, umgeben vom Schweigen des Vaters, der seine Einsamkeit im Alkohol ertränkt. Die Mutter stillt ihren Lebenshunger bei einem neuen Mann, sodass sie den Jungen mitunter „ganz vergisst“. Paul geht nicht in die Schule, denn er hat Asthma. Man könnte sagen: Er droht an seiner Umgebung zu ersticken. Nach der Trennung der Eltern („die Stille zu Hause war so eiskalt und starr, dass man sie schneiden konnte, auch ich lernte, das Schweigen nicht zu stören“) lebt die Mutter kurz auf: Mutter und Sohn verbringen glücklich unbeschwerte Sommerferien.

Umso härter ist die Vertreibung aus dem Paradies, denn alsbald ziehen sie aufs Dorf, wo die Mutter als Lehrerin arbeitet und nachts zu ihrem Liebhaber entschwindet. Wie zum Trost gibt es das Kindermädchen Halina, das ruthenisch-christlicher Herkunft ist, noch ein halbes Kind, aber schon so erwachsen, dass sie Paul in die wichtigsten Dingen des Lebens einzuführen vermag: in die Liebe zu Gott, in die Liebe zur Natur und in die Leidenschaft. Halina wird Mutterersatz und erste Liebe zugleich.

Eines Tages wird Halina aus Eifersucht von ihrem Verlobten erschossen und Paul bleibt mit seinen Fantasien allein zurück, bis er, noch bevor die Mutter heiratet, zum Vater nach Czernowitz zurückzieht. Mit seinem Vater begegnet Paul dem wachsenden Antisemitismus: Der Vater wehrt sich dagegen mit Fäusten. Am Ende des Romans fühlt er sich derart bedroht, dass er sich gar eine Pistole kauft, was ihm zum Verhängnis wird.

„Ich bin der letzte jüdische Schriftsteller“, hat der Holocaust-Überlebende Aharon Appelfeld über sich selber gesagt, und tatsächlich: Appelfeld ist, obwohl er seit über fünfzig Jahren in Israel lebt und auf Hebräisch schreibt, kein israelischer Schriftsteller geworden. Sein Thema ist der Untergang der jüdischen Kultur, die einst in Europa vielen Menschen Heimat war – eine Nation inmitten der Nationen. Pauls Familie, die im Laufe des Romans wie stellvertretend untergeht, steht für die Juden der Zwischenkriegszeit, die ihrer Zugehörigkeit zum Judentum keinen besonderen Wert beilegten: Der Vater ist ein moderner expressionistischer Maler, die Mutter konvertiert zum Katholizismus.

Doch Paul weiß sich nirgendwo mehr zu Hause. Die gläubigen Juden der älteren Generation, deren Gebete und Traditionen ihn faszinieren, beschwören den Untergang: „Gott wird die Juden strafen, weil sie gottlos sind“, sagt einer und es klingt wie eine Vorahnung. Wie überhaupt das ganze Buch ähnlich wie bereits Appelfelds Roman „Badenheim“ als Vorahnung gelesen werden kann – es beschreibt eine untergehende Welt vereinsamter Einzelner: Die Mutter stirbt an Typhus, der Vater wird Opfer einer Gewalttat, der Sohn landet im Waisenhaus.

In einer Tonlosigkeit, die tiefste Trauer und selbst auferlegten Gleichmut spiegelt, erzählt Appelfeld die Geschichte dieses Weltverlustes. Dabei behält er seine hypersachliche Sprache noch in der bedrängendsten Lage bei, nur die Träume erzählen von der Schwärze der Gefühle. Die Unabänderlichkeit des Geschehenen („So ist es gewesen“) erlangt durch den permanenten Tempuswechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart Allgemeingültigkeit („So ist es“).

Doch „Alles, was ich liebte“ ist zuallererst eine Parabel über die Gegenwart der Abwesenden, über die Präsenz der Lebenden und der Toten. Nachdem Halina, das Kindermädchen, gestorben ist, versucht Paul sie zu malen und ärgert sich, dass er sie nicht gemalt hat, als sie noch lebte – dann hätte er sie jetzt präsent. Als Paul beim Vater lebt, versucht er verzweifelt, das Gesicht der Mutter zu imaginieren – und als er mit der Mutter zusammenlebt, das Gesicht des Vaters zu erinnern. „Merkwürdig, ich hatte ihn beinahe vergessen“, sagt der Junge, als der Vater eines Tages unerwartet vor der Tür steht. „Immer wenn meine Sehnsucht ganz gewaltig ist, kommt er“, lautet ein tröstlicher Satz, der der Imagination viel Kraft zuspricht.

Man übersieht es leicht, aber: Unter den Schriftstellern wie Aleksandar Tišma, Primo Levy oder Imre Kertész, die wie Appelfeld ihr Schreiben der Erfahrung der Schoah gewidmet haben, hat es Appelfeld zu einer besonderen Meisterschaft gebracht. Er hat niemals von der Vernichtung der Juden erzählt, und doch ist sie allgegenwärtig.

Aharon Appelfeld: „Alles, was ich liebte“. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenauer. Alexander Fest Verlag, Berlin 2002, 287 Seiten, 19,90 €

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