: „Politische und rhetorische Achterbahnfahrt“
Ralf Fücks, Vorstand der Böll-Stiftung, kritisiert Schröders Parole vom „deutschen Weg“. Er plädiert für Grünen-Wahlkampf mit eigenen Themen
taz: Herr Fücks, Kanzler Schröder hat die Grünen überraschenderweise in der Frage des Irakkrieges pazifistisch überholt. Sind jetzt die Sozialdemokraten die neue Friedenspartei und nicht mehr die Grünen?
Ralf Fücks: Ach nein. Solange keine akute Kriegsgefahr von der irakischen Diktatur ausgeht und keine zwingende Begründung für eine militärische Intervention vorliegt, solange keine völkerrechtliche Legitimation existiert und keine Einbindung in eine regionale Stabilitätspolitik, so lange sind wir gegen militärisches Vorgehen. Krieg auf Verdacht wird es mit uns nicht geben.
Das sagt Schröder auch.
Ja, aber Schröders Problem ist der Zickzackkurs: Gestern galt die uneingeschränkte Solidarität mit den USA, heute plötzlich das uneingeschränkte Nein zum Irakkrieg. Da stehen die Grünen für mehr außenpolitische Kontinuität: Militärische Mittel als Ultima Ratio können wir nicht ausschließen, aber das Primat haben politische Krisenlösungen.
Schröder ist nicht nur in der Irakfrage nach links ausgeschert. Er scheint im Wahlkampf überhaupt auf eine linke Rhetorik zu setzen …
Im SPD-Hauptquartier scheint gelinde Panik ausgebrochen zu sein. Anders ist die politische und rhetorische Achterbahnfahrt des Kanzlers schwer zu erklären. Ich glaube nicht, dass die SPD mit Juso-Parolen aus der Defensive kommt. Und das Motto von dem „deutschen Weg“ in der Innen- und Außenpolitik ist entweder banal, weil jede Regierung den Traditionen und Interessen ihres Landes Rechnung trägt. Oder es ist ein gefährliches Spiel mit nationalen Ressentiments. Der deutsche Weg führt, von Adenauer über Willy Brandt bis Fischer, jedenfalls in die europäische Integration und in das transatlantische Bündnis. Schröders neue Wendung ist da eher irritierend.
Die SPD scheint derzeit ihre Stammklientel um sich zu scharen, um den drohenden Absturz am 22. September etwas abzufedern: Hat die SPD Rot-Grün schon aufgegeben?
Eine Ursache für die schwierige Lage der Regierung ist, dass die SPD Rot-Grün von Anfang an nicht als Reformprojekt verstanden und betrieben hat. Für die Grünen heißt das um so mehr: Wir führen keinen Lagerwahlkampf, sondern streiten für grüne Ziele und Projekte.
Ein Nachruf auf Rot-Grün?
Nein. Rot-Grün ist die einzig mögliche Reformkonstellation. Es ist unsinnig, sie vorschnell abzuschreiben. Aber dafür müssen die Grünen mehr tun, als nur auf ihre Erfolge zu verweisen. Sie müssen vor allem klar machen, was sie tun wollen.
Und das wäre?
Ohne die Grünen wird die Wende in der Agrarpolitik nicht fortgeführt. Das Gleiche gilt für ihre erfolgreiche Verbraucherschutzpolitik und die Energiepolitik. Die Ökologie ist und bleibt das Kernthema der Grünen. Dort haben sie auch programmatisch am meisten vorzuweisen.
Also: Weiter so. Das ist zu wenig. Und ein zündendes neues Thema fehlt den Grünen.
Einspruch – ich war ja noch nicht zu Ende. Die Grünen haben neue Ansätze in der Bildungspolitik. Da haben sie bislang ihre Unterschiede zur SPD nur sehr vorsichtig deutlich gemacht. Ich erinnere an die Einführung von Bildungsgutscheinen oder an das BAFF-Modell, eine innovative Idee zur Beteiligung von Hochschulabsolventen an der Finanzierung der Universitäten. Wir müssen auch die grüne Handschrift in der Arbeitsmarktpolitik klarer machen: mehr Flexibilität und eine deutliche Senkung der Lohnnebenkosten. Das geht nur mit der Ökosteuer.
Trotzdem: 1998 standen wichtige Demokratie- und Bürgerrechtsreformen an: vom Staatsangehörigkeitsrecht bis zur Homoehe. Das fehlt den Grünen 2002. Werden sie nicht mehr gebraucht?
Wir haben genug Reformprojekte im Köcher. Auch in der Demokratiefrage gibt es Unerledigtes – zum Beispiel in der Frage der Volksentscheide, die eine wichtige Erweiterung der parlamentarischen Demokratie sind. Wir haben jetzt den gesetzlichen Rahmen für eine Migrationspolitik geschaffen. Nun müssen wir eine effektive Integrationspolitik vorantreiben.
Das will die Union auch.
Ja, im Sinne einer Anpassung an eine vorgegebene deutsche Leitkultur, also im Sinne von Assimilation.
So wie Schily?
Genau deshalb brauchen wir Grüne in der Regierung, die an ihrem multikulturellen Ansatz festhalten.
Die Grünen haben bislang die neu entdeckte Kinder- und Familienpolitik in den Vordergrund gerückt. Ist das nicht zu wenig?
Wenn es das einzige Thema wäre, dann ja. Ist es aber nicht. Außerdem existieren viele Verbindungen zur Bildungspolitik. Der Ausbau von Ganztagsschulen soll ja nicht nur mehr Frauen die Möglichkeit zur Berufstätigkeit eröffnen. Er ist auch ein Schlüssel für die verstärkte Förderung von unterprivilegierten Jugendlichen. Im Wahlkampf müssen wir also unsere Reformprojekte nach vorne rücken. Wir dürfen nicht den Fehler machen, uns auf einen reinen Abwehrwahlkampf – Rot-Grün gegen die konservative Restauration – zurückzuziehen. Das Schreckgespenst Stoiber-Westerwelle zu beschwören, das wird nicht ausreichen. INTERVIEW: STEFAN REINECKE
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