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Der Zeremonienmeister des Herrn

In den Sechzigern wurde Solomon Burke als „King of Rock ’n’ Soul“ gefeiert, als Bestattungsunternehmer und Bischof seiner eigenen Kirche überdauerte er die Jahre. Auf seinem Comeback-Album erweckt er nun den Urtext des Genres zu neuem Leben

Von JONATHAN FISCHER

An der Windschutzscheibe der schwarzen Limousine prangt ein Schild: „Funeral Director“. Schnaufend stützt sich Solomon Burke auf einen überdimensionalen Wurzelstock; der Schweiß läuft ihm über die Stirn, als er seine gut 300 Pfund Leibesfülle in die Lobby des Woodland Hill Hilton in Los Angeles hievt. Unwillkürlich fragt man sich, wie der 66-Jährige im eleganten Dreireiher und Tuxedo wohl noch in der Lage sein soll, eine mehrstündige Predigt durchzustehen, geschweige denn ein Soulkonzert mit Tanzeinlage. Doch Mr. Burke hat einen Ruf zu verteidigen: Seit vier Jahrzehnten gilt der übergewichtige Sänger als „King of Rock ’n’ Soul“ – ein Titel, den er mindestens so ernst nimmt wie sein Bischofsamt oder seinen Doktor der Bestattungskunst.

„Ich schaue als Letzter auf dich herab, und bringe dich als Erster wieder hoch“, feixt Solomon Burke, während er in einer großen Portion Rührei mit Speck stochert. Gerade hat er noch feierlich durch seine vergoldete Designerbrille geblickt und vom Tod erzählt, dem einzigen Zeitpunkt im Leben, wo die Menschen wirklich Beistand brauchten: Balsam für den Körper, Begleitung für die Seele. Soul. Solomon scheint das Wort für sich gepachtet zu haben. Der Urtext dazu findet sich auf Burkes neuem Album: „Don’t Give Up On Me“ ist die Antithese zu den überproduzierten Eintagsfliegen des aktuellen R ’n’ B: Improvisation statt aufwändiger Arrangements. Soul statt Technik.

Wie einst Rick Rubin mit Johnny Cash hat sich Produzent Joe Henry ganz und gar auf die Eigendynamik seines Helden eingelassen, und für diese epochale Feier amerikanischer Roots-Musik setzten sich ausschließlich hochkarätige Songwriter an den Schreibtisch: Bob Dylan, Brian Wilson, Tom Waits, Van Morrison, Elvis Costello und Nick Lowe. „Ich bin nur derjenige, der ihre Songs verpacken darf“, winkt seine Majestät ab und schiebt sich eine Gabel Grießbrei nach. „Gott hat sie den Autoren eingegeben und an mich weiterleiten lassen. Jetzt besorge ich die Fransen und das Geschenkpapier, sodass man sie dem Publikum präsentieren kann.“

Pränatale Prophezeiung

Das klingt ungewöhnlich bescheiden für einen, der in den 60er-Jahren nie ohne roten Teppich, eine Replik der englischen Königskrone auf dem Kopf und eine von einem leibhaftigen Zwerg geschleppte Hermelinrobe die Bühne betrat. Damals galt die Show des „King of Rock ’n’ Soul“ als unschlagbar: Selbst die Konkurrenz bescheinigte dem „schwarzen Elvis Presley“ ein geradezu beängstigendes Charisma. Niemand nehme so intensiv Kontakt mit seinem Publikum auf wie Solomon Burke, niemand könne einem Händedruck von der Bühne herab so viel emotionale, sexuelle und spirituelle Bedeutung verleihen wie der sanfte Koloss. Einen „Lügner und Scharlatan“ schimpften ihn dagegen Neider.

Sicher ist nur: Eine Figur wie Solomon Burke lässt sich nicht erfinden, niemand würde sie einem abkaufen. Schon zwölf Jahre vor seiner Geburt in Philadelphia im Jahre 1936 soll er seiner Großmutter in einer Prophezeiung erschienen sein, worauf diese die „House of God for All People Church“ gründete – eine Vereinigung, der heute knapp 170 Kirchen mit 40.000 Mitgliedern in ganz Nordamerika und Jamaika angehören. Als Solomon mit sieben Jahren gerade mal ans Bibelpult reicht, gibt er seine erste Predigt. Mit neun wird er zum Bischof gekürt, mit zwölf verbreitet er die Frohe Botschaft über einen lokalen Radiosender.

Als Popsänger punktet er 1956 mit „You Can Run But You Can’t Hide“, ursprünglich ein Slogan vom ehemaligen Schwergewichtsweltmeister Joe Louis, dem Burke auch einen Teil der Tantiemen einräumt. Dummerweise vermasselt der Boxer den Werbeauftritt in einer TV-Show, als ihm der Name Solomon Burke partout nicht mehr einfallen will, er dafür aber die Version eines Konkurrenten erwähnt. Vier Jahre später nimmt Atlantic Records den Sänger unter Vertrag. Dort verschafft ihm ausgerechnet eine Country- und Western-Ballade den Durchbruch: Solomon Burkes empathischer, gospelgeschulter Bariton kommt bei weißen und schwarzen Hörern gleichermaßen an. Atlantic-Boss Jerry Wexler ist überzeugt, den „größten Soulsänger aller Zeiten“ gefunden zu haben. Schmalzige Popnummern wie „Just Out Of Reach“, „Cry To Me“ oder „If You Need Me“ schüttelt der Bischof ebenso überzeugend aus dem Ärmel wie das selbst geschriebene (und von den Blues Brothers wiederbelebte) Glaubensbekenntnis „Everybody Needs Somebody To Love“.

Dabei sind es gerade die Widersprüche in seiner Person, die Solomon für sein Publikum so faszinierend wie ungreifbar machen: Was soll man von einem Gottesmann und Vater von 21 Kindern denken, der glaubt, wir seien vor allem auf diese Erde gekommen, „to have one boogaloo good time“? Wie ernst darf man einen Prediger nehmen, der, so böse Zungen, mit der einen Hand ein Kind segnen konnte und mit der anderen einen Frauenpo kneifen? „Nichts ist die ganze Zeit gut, und nichts tut dir die ganze Zeit gut“, räsoniert Solomon. „Egal, wie glücklich wir heute sind, wir müssen die Münze irgendwann umdrehen. Ich bin lange genug durch die Niederungen der Hölle gewandert, um das mit Sicherheit zu sagen.“

Die Hölle: König Solomon sieht sie überall in den leeren, hedonistischen Texten des zeitgenössischen R ’n’ B. Aber er verurteilt niemanden. Viele der heutigen Popstars seien verwirrt, ausgenützt und hätten in ihrem Leben nicht die Gelegenheit gehabt, das zu tun, was sie gerne würden. „Wenn sie sich dann endlich ausleben dürfen, haben sie nur ein Bedürfnis: Aus dem Wirrwarr, der Enttäuschung, der Sorge und Armut endlich rauszukommen, und das auch nach außen zu beweisen: Mit großen Autos und schönen Häusern. Hinter dem R ’n’ B von heute steckt viel Verletzung und viel Schmerz.“

Juwelen im Fluss

Über seine eigenen dunklen Seiten mag Burke lieber nicht sprechen. Doch die Ausschweifungen, Affären und manischen Geschäftemachereien, die ihn scheinbar lebenslang begleiteten, haben den Songwritern von „Don’t Give Up On Me“ offensichtlich genug Spekulationsstoff geliefert. „I’ve shook the hand of presidents and the pope in Rome / I’ve been to parties, where I had to been flown / they said that everything was sacred and nothing was profane“ übt sich Tom Waits in „Diamond In Your Mind“ als Burkes Biograph.

Ob man sich nicht irgendwann für eine Seite entscheiden müsse? Schließlich habe sein Kollege Little Richard nach seiner Bekehrung zum Prediger seine Juwelen in einen Fluss geworfen?! „Little Richard?“ Solomon Burkes Seelsorgermiene verzieht sich zu einem süffisanten Lächeln. „Ich habe diesen Fluss neunmal trockengelegt und nichts gefunden. Langsam fange ich an zu glauben, der Kerl hatte seine Juwelen an eine Nylonschnur gebunden, so dass er sie wieder rausziehen konnte, sobald die Kameras abgeschaltet waren.“

Burke, der seine eigene Kirche einmal leichthin als „church of let it all hang out“ charakterisierte, hat sich nie bemüht, die weltlichen von den spirituellen Angelegenheiten zu trennen. Die Legenden um seine Geschäftstüchtigkeit reichen zuweilen ins Fabelhafte: Das Firmenimperium des Soulsängers umfasste, zum einen oder anderen Zeitpunkt, eine ganze Kette von Bestattungsunternehmen, Kräuterläden, Drogeriemärkten, Restaurants und einen Limousinenservice. Spielplätze eines Mannes, dem schon als Kind die Bürde der Welterrettung auf die Schultern gelegt wurde und der deshalb beschloss, nie wirklich erwachsen zu werden? Jedenfalls soll Burke am Tag seines Auftritts im New Yorker Apollo mit einem Laster voller Popcorn vorgefahren sein – und den überrumpelten Managern keine Wahl gelassen haben, als halb Harlem mit „Sol’s Soulpopcorn“ zu überschwemmen. Wenn Burke in Fahrt kommt, dann bauscht er seine Anekdoten gerne zu Mini-Dramen auf – inklusive verteilter Rollen, Grimassen und verstellter Stimme: „O ja, Popcorn ist immer noch ein großes Thema für mich. Willst du es probieren? – du kannst es auf meiner Website ordern.“ Lautes Gelächter.

Die dreieinhalb Jahrzehnte nach seinem letzten Atlantic-Hit im Jahre 1968 scheint der King Of Rock ’n’ Soul hauptsächlich von der Erinnerung an solche, inzwischen in die Folklore des Soul eingegangenen Geschichten gezehrt zu haben. Er war seiner selbst gewählten Rolle als Country-Soul-Sänger treu geblieben, während Soul mit seinen Labelkollegen Wilson Pickett, Aretha Franklin und Otis Redding immer schwärzer anmutete. „Respect“ statt „Cry To Me“. Als Mitte der 70er-Jahre Disco und in der Folge Swingbeat und Rap die Regie übernahmen, wirkte König Solomon nur noch wie ein alternder Preisboxer: Gut, da gäbe es noch die Nominierung für einen Gospel-Grammy Mitte der Achtzigerjahre zu erwähnen, die darauf folgende Europatournee und das 1987 zeitgleich erscheinende Studioalbum „A Change Is Gonna Come“. Doch der Umschwung ließ auf sich warten – bis ein gnädiger Gott den Produzenten John Henry, das Label „Fat Possum“, bisher hauptsächlich für Blues-Punk-Obskuritäten bekannt, und den alternden Sänger zusammenführen sollte. Die meisten Plattenfirmen, so Burke, hätten einfach keine Ahnung, was sie mit Soul-Veteranen wie ihm, Wilson Pickett, Aretha Franklin oder Percy Sledge anfangen sollten. Er erwähnt nicht, dass sein letztes, vor fünf Jahren auf Virgin veröffentlichtes Album weltweit nur einige tausend Kopien verkaufte.

Preisboxer ohne Vertrag

Doch es war wohl erst dieser Misserfolg, der sein Comeback ermöglichte. Bruce Watson und seine Kompagnons vom Fat Possum Label hatten herausgefunden, dass Solomon Burke keinen Plattenvertrag hatte. Ein Wort gab das andere, und die eigentlich auf rauen Blues abonnierten Jungs aus Oxford, Mississippi, ließen die Leitungen heiß laufen: Ob ihre Lieblings-Songwriter der Ehre wegen einen Song für Solomon beisteuern würden? Sogar Prince und Bruce Springsteen erklärten sich sofort dazu bereit, konnten aber aus Termingründen nicht mehr für das Album berücksichtigt werden.

Schließlich ging alles so schnell über die Bühne wie zu den Zeiten, als Atlantic die Sessions noch im Firmenbüro abzuhalten pflegte: „Rudy, mein Kirchenorganist, und ich, wir haben einfach unser übliches Kirchending durchgezogen: Rudy – ich singe, du spielst. Egal, was passiert, du folgst mir und der Rest folgt uns.“

Solomon Burke wischt sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Es war die erste Aufnahme, die er seit den 50er-Jahren live im Studio eingespielt hatte. Und wer den atmosphärischen Blues-Funk von „Stepchild“, das passionierte Call and Response mit den Five Blind Boys of Alabama auf „None Of Us Are Free“ hört, kann sich gut vorstellen, wie Solomon Burkes Kirchenfrauen gebratene Hühnchen und süßen Tee zu den Sessions bringen, der Duft von Soulfood durch die betagte Sunset Sound Factory in Los Angeles weht. „Wir haben kein Jahr und auch keine sechs Monate für das Album gebraucht – es waren genau vier Tage! Vier Tage, weil die anderen es so wollten. Von mir aus hätten auch zwei gereicht.“ Nein, seinen Part habe er kein einziges Mal geprobt. Klar, dass man Dinge üben könne, um sie perfekt zu machen. Doch Soul lasse sich weder proben noch auf Kommando abrufen. Mit ihm, so der „Funeral Director“, verhalte es sich wie mit den letzten Dingen: „Du kannst die Leiche noch so schön herrichten. Lebendig machen kann sie nur Gott.“

Solomon Burke: „Don’t Give Up On Me“ (Fat Possum/Anti/Connected)

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