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Europäische Perspektiven für Kabul

Zwischen den Häuserruinen der Stadt scheint Dringenderes notwendig als eine Berührung mit europäischen Kunstpositionen. Doch auch die künstlerische Begegnung ist ein Ansatz, neue Perspektiven aufzuzeigen und Normalität zu schaffen

Bislang durften nur Landschaften oder ornamentale Arbeiten gezeigt werden

von MANFRED SIELOFF

Laufen in der Hitze, sitzen im Auto in der Hitze, fahren. Vorbei an Hausfragmenten, Mauerresten, über Wege, die gesucht werden müssen zwischen den Löchern der Straße. Kriegsgerät am Wegesrand, eine Maschinenpistole an der ein Eimer mit Maulbeeren hängt. Trocken sitzt der Staub in der Kehle, alle Männer mit Bart, Maschinenpistole im Autofenster – Polizeikontrolle, „buro buro“ – weiter, weiter.

Drei Wochen Afghanistan, Andreas Theurer und ich, wir Europäer mit unserem Verständnis von modernen Kunstpositionen in dem Land des „Wartens“. Alles ruhig, ein Hahn kräht, Hunde bellen, die Mullahs rufen um drei Uhr morgens zum Gebet und das Leben erwacht. Sallam und Najib werden aufstehen, vielleicht an ihre Arbeiten denken, die lebensgroße Frau ohne Schleier vor dem Erdball, Nadjibs tanzende Allegorie, Bilder, die sie noch vor einem Jahr nicht hätten denken können. Fahrt zur Arbeit mit dem Auto, vorbei an zerschossenen Wohnhäusern, Läden und Fabriken, bewohnt, leer oder vom Militär genutzt, Löcher im Asphalt, Schritttempo, Autowäsche am Straßenrand, Bäckerei ohne Fenster, flache Brotfladen, die aussehen wie indianische Schneeschuhe, durch Kabul, die Stadt des langen Krieges. Circa zweiundzwanzig Jahre, für mich eine unvorstellbare Zeit. Die Universität, mit Häusern halb zerstört ohne Dach oder Fenster, Kontrolle, Kalaschnikow im Fenster, wir zeigen auf das Schild „Friedrich Ebert Stiftung“, weiter.

Ankommen, Begrüßung „Salam aleikum“. Eine Hand vor der Brust, dann beide zum Handschlag reichend ohne Blickkontakt, stehen „unsere Schüler“, die Dozenten der „Academy of Fine Art“, vor uns. Mit ernstem und fragendem Blick auf die Fremden. Die neun Männer und zwei Frauen sehen uns als Boten aus einer anderen Zeit. Andreas Theurer, sonst in Dessau lehrend, sagt, „das könnte ein Anfang sein, ein Schritt in die Zukunft, ihnen eine Perspektive eröffnen, nach so vielen Jahren Entbehrung und Krieg“. Mit seiner kleinen Werkschau eröffnet Andreas Theurer das Projekt „Perspektiven“, präsentiert werden Zeichnungen und Plastiken in Holz und Stein.

Wir zeigen Bücher und Dias. Zum ersten Mal in ihrem Leben sehen die afghanischen Teilnehmer Arbeiten wie „Night Bloom“ von Keith Edmier, Skulpturen von Stephan Balkenhol, Bilder von Francis Bacon oder Jeff Wall. Fragen gibt es viele von unseren neuen Kollegen. Warum haben Giacomettis Figuren keine richtigen Körper oder diese halb verwischten Gestalten von Francis Bacon, ist das modern? Wir unterhalten uns auf Englisch, Russisch und in Körpersprache.

Latifa, eine der zwei teilnehmenden Frauen, zeichnet eine Mutter ohne Schleier mit Kind, das nur ein Bein hat. Die Vergangenheit, der Krieg, steht im Mittelpunkt aller Arbeiten. Diese Erfahrung lässt sich nicht aus dem Leben und den Arbeiten der Afghanen wegdenken.

Der Schleier, die Burka, ein Bekleidungsstück wie ein Umhang, der nur ein Sichtfenster für die Augen lässt. Die Frauen stolpern über das plissierte, gewaltige Stoffstück. „Eine häufige Unfallursache“, erzählt uns Latifa und lacht. „Ich trage sie immer auf dem Markt, das ist sicherer, für mich. Da es immer noch Männer gibt, die Frauen ohne Burka in der Öffentlichkeit beschimpfen.“

Außerhalb des Universitätsgeländes sieht man keine Frau ohne Burka. Nasim entwirft eine Straßensituation: Burka – Frau mit Kind. „Warum malst du eine Frau mit Umhang?“, frage ich. Als ich wiederkomme, ist aus der Frau ein Mann geworden. „Gut, modern?“, fragt er und lacht.

Die Frage ist grundsätzlich, die meisten wollen eine Frau zeichnen, mit oder ohne Burka, bei den meisten setzte sich dann aber der Gedanke durch: Gut, zeichnen wir einfach einen Mann. Da muss man bei der Darstellung weniger überlegen, aufpassen. Es gibt zwar keinen Zwang mehr, aber eine große Unsicherheit. Für uns ist es schwer, in einem Land mit starken sozialen, kulturellen und religiösen Kodierungen und den daraus entstehenden Mustern mit diesen umzugehen.

In den letzten zehn Jahren durften nur Landschaften oder ornamentale Arbeiten gezeigt werden. Plastiken oder Skulpturen waren nicht erlaubt. Wo können wir beginnen? Mit der uns eigenen Kritik an Erscheinungsbildern unserer und ihrer Arbeiten. Und wie passt unsere Vorstellung und Kritik zu ihren Kunstvorstellungen? Unsere Darstellungen wurden insofern kritisiert, dass hier in Afghanistan keine Brüste gezeigt werden dürfen – nicht einmal die Andeutung davon, obwohl wir uns über deren Schönheit einig waren. Wenn wir Fragen nach der Zukunft stellen, lächeln sie und in ihren Augen kann man lesen, das wir von hier nicht viel verstehen.

„Können wir Drucke machen?“, fragen unsere neuen Kollegen. „Habt Ihr Linoleum?“

Wir fahren zu einem „Fliesenladen“. Unser Dolmetscher versteht nicht. „Pappe?“, fragt er. „Nein, nein, Linoleum.“ Ich hole ein Stück aus der Tasche, er bestaunt es. „Das gibt es nicht in Afghanistan“, erklärt er kategorisch. Zurück zur Uni durch den Gestank und das ständige Gehupe der Autos. Der Fahrer erklärt, wenn die Hupe am Auto nicht mehr geht, kann man auch nicht mehr fahren. Die Dozenten warten auf das Linoleum. Ich zeige das Stück, das ich in der Uni gefunden habe. „Das gibt es hier“, sagt Farhad. „Noch von den Russen“, erklärt der Direktor. „Damit waren alle Räume ausgelegt.“ – „Könnt ihr so etwas holen?“, frage ich. Sie bringen einen Stapel altes, abgewetztes Linoleum. Wir brauchen Benzin zum sauber machen. „Das gibt es auf dem Markt.“ Das Benzin steht in Fässern an der Straße, rundherum alles schwarz, es stinkt nach Diesel. Alter Ölkanister, Benzin rein, ein Schluck für die Straße, Lappen in die Öffnung, stolz hält der Fahrer den Kanister hoch.

Die Arbeit geht allen gut von der Hand, Linolmesser haben wir nicht, aber Schnitzwerkzeug, gesponsert durch die Firma Dick. Tief wird weiß und hoch wird schwarz, die Umsetzung ist nicht einfach, doch sie lernen schnell und produzieren am Tag zwei Druckplatten. Nur beim Drucken, da wurden ganze Blätter und Tische schwarz und Benzin wurde verarbeitet wie Wasser.

Es entstanden unterschiedliche Arbeiten: Behinderte, Bettler, Porträts und Männer bei der Arbeit. „Es gibt eine Galerie hier in Kabul, dort stellen wir unsere Arbeiten aus, da könnt ihr sehen, was wir so machen, alles kann gekauft werden.“

Besuch in der Galerie, die Exponate sind für Touristen, die es noch nicht gibt. In der Galerie gibt es Teppiche, Keramik, Tabletts, Gläser, Zeichnungen, Ölbilder, kleine Plastiken, handgetriebene Kupfergefäße, schöne Kleider und Schmuck. Zur Zeit kaufen dort nur Vertreter der Hilfs- und Militärorganisationen, ansonsten veranstaltet die Galeristin Konzerte und Lesungen. Eine wunderbare Idee in dieser Stadt, ab 22 Uhr Ausgangssperre, ab 20 Uhr sind die Straßen fast leer, nachts Panzer, Militärfahrzeuge und keine Zivilisten.

Unsere Gastgeber stehen vor der Akademie und zeigen mit der Hand auf den Berg, der die Mitte von Kabul ausmacht: „Dort waren die Soldaten Massuds“, sagen sie und zeigen auf den Westteil der Akademie.Der westliche Teil der Akademie konnte bis heute nicht repariert werden. Die Studenten für Schauspielkunst proben deshalb in einem Raum ohne Dach und mit aufgestapelten Steinen in den Fenstern. Dann kamen die Taliban. Sie schlossen die Schule und malten selbst: Ornamenttafeln, die nicht einmal ihre Zeit überlebten.

„Warum tragt Ihr alle immer noch einen Bart?“, frage ich Abdel Heie. „Früher, zur Talibanzeit, mussten alle Männer Bärte tragen, sonst gab es Stockschläge. Der Bart wächst – er ist einfach da. Wer weiß, was noch kommt“, antwortet er.

Überall Straßensperren, Militärkontrollen, alle wollen Wegezoll. Eine Polizei gibt es noch nicht, nur neue Polizeiautos, aber das ist etwas anderes. Wenn wir Kabul verlassen, nehmen die Schäden an den Häusern zu. Genau besehen gibt es nur zerstörte Häuser, Gärten und Äcker, alles vermint. Am Straßenrand liegen Steine, weiß und rot gestrichen. Der Fahrer klärt uns auf: „Man darf nur auf der weißen Seite laufen, rot bedeutet vermint.“ Er hebt die Hand und macht eine waagerechte Bewegung am Hals. Jeder Ort besitzt eine oder mehrere Panzerruinen, die, toten Tieren gleich, am Straßenrand liegen. Nirgends Bäume, die Sonne brennt, einzelne Stände mit Obst, Barrieren aus Panzerketten quer über der Straße, bewaffnete Zivilisten, Blick ins Auto: „Wohin? Buro, buro.“ Der Krieg scheint immer noch nicht zu Ende zu sein. Die Afghanen haben gelernt, damit zu leben, aber zu welchem Preis?

„Was habt Ihr in der Zeit des Krieges gemacht?“ – „Dieses und jenes, wir mussten leben.“ Eine Antwort fällt unseren Gastgebern schwer.

„Wann beginnen wir mit der Holzplastik?“ Darauf waren sie besonders neugierig, die Arbeit mit dem Werkzeug für Holz. Inspiriert durch die Frau aus dem Roman „Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen“ von Siba Shabib, schufen wir gemeinsam eine drei Meter hohe Holzplastik. Für diese Frau, die mit ihren Kindern fünfzehn Jahre auf der Flucht durch den Krieg ging. „Die erste Frauenskulptur in Afghanistan“, sagt Farijad, Direktor der Akademie. Sie steht jetzt in der Eingangshalle.

Kurz vor der Abreise morgens um drei, der Schlaf will nicht kommen, die Bilder hängen oder stehen in der „Academy of Fine Art“ in Kabul. Die Finissage des Workshops, eine Arbeitspräsentation, Bilder ohne Rahmen, angefertigt von Dozenten der Akademie. Niemand macht „Kunst“, und niemand ist ein Künstler. Kunst entsteht erst auf einer kollektiven Ebene, da es um Vereinbarungen und Spielregeln geht. Jede Generation, jedes Land hat dabei seine eigenen Auswahlkriterien und seine eigenen Wechselwirkungen.

Die Besucher der Finissage sind deutsche, englische und türkische Soldaten, Vertreter verschiedener Hilfsorganisationen und Freunde der Dozenten. Einige der Arbeiten, die während des Workshops entstanden, können nach der Finissage direkt verkauft werden. Ein Erfolg für die Teilnehmer.

Sprachbarrieren sind nicht wichtig, Umarmungen zum Feierabend, so enden die letzten Tage. Abschied. „Ihr wart das Tor zur Welt für uns, Ihr müsst wiederkommen“, sagt Salam.

Am Morgen die letzten Sachen packen, Tee trinken, eine Mango aus Pakistan essen. Dann durch den Staub der Straße zum Flughafen, vorbei an den Ruinen durch die Schlaglöcher, Kontrolle, Kalaschnikow. Kofferträger, die einem alles aus der Hand nehmen. Kabel hängen von der Decke, Fensterscheiben nicht vorhanden, improvisierte Absperrungen. „Was haben sie hier gemacht?“, fragt eine Deutschafghanin. „Was“, ruft sie nach unserer Antwort aus, „die Akademie gibt es wirklich noch!“

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