: Bei Regen bleibt der Turm geschlossen
taz-Serie „Berliner Bergwelt“: Die Müggelberge waren einst beliebte Ausflugsziele. Im Moment ist auf den grünen Hügeln nicht viel los. In den Wäldern im Südosten der Stadt tummeln sich nur wenige Ausflügler, Mountain-Biker und Spiritualisten. Nur ein Investor plant mal wieder den großen Wurf
von RICHARD ROTHER
Nein, viel Kundschaft kann er nicht haben. „Bitte läuten, komme sofort“, steht auf einem bunt verzierten Glöckchen, das über der Theke des kleinen Imbisshäuschens hängt. Zieht man hier, direkt an der Hauptstraße im Vorland der Müggelberge, an der Leine des Glöckchens, muss man ein wenig Geduld mitbringen, vor allem wenn das regnerische Sommerwetter gerade noch hartnäckige Jogger in das einst beliebte Ausflugsgebiet im Südosten der Stadt treibt. Nach einer halben Minute erscheint, sich die Augen reibend, der Imbissmann. Seine müden Augen blicken ein wenig enttäuscht, als der Kunde nur einen Kaffee ordert. Aber dann kommt ihm eine zündende Geschäftsidee: „Wollen Sie einen kleinen oder einen normalen?“ Der normale verspricht bei einem Preis von 1,30 Euro immerhin knapp 30 Prozent mehr Umsatz. Kleingeld stinkt nicht.
Aber auch an schönen Tagen läuft das Geschäft in den Müggelbergen, die eine Fläche von 7,4 Quadratkilometern bedecken und bis zu 115 Meter hoch sind, nicht besonders. Schuld hat der Naturschutz, weiß der Imbissmann. „Hier an der Hauptstraße geht’s ja noch. Aber wie soll eine Kneipe am Teufelssee funktionieren, wenn die nicht einmal einen Parkplatz haben darf?“
Der Teufelssee, klein und kreisrund, liegt direkt am Fuße der Müggelberge. Haubentaucher und Enten, Seerosen und Schilfhalme fühlen sich hier wohl; der See ist völlig ruhig, weil er mitten im Wald liegt und selten ein Windzug das Wasser kräuselt. Um den Teufelssee ranken sich viele Legenden, weil die Menschen, die ihn besuchen – beispielsweise Spiritualisten auf der Suche nach Plätzen für ihre Rituale –, Legenden hören wollen. Eine Sage ist die von der schönen, versunkenen Prinzessin, die jedes Jahr in der Johannisnacht aus dem See steigt und gelbe Seerosen an den Saum ihres schwarzen Kleides steckt.
In erster Linie aber ist der See, wenn man eine Hand ins Wasser taucht, kein Ort der Sagen und Rituale, sondern nass – und ein ausgewiesenes Naturschutzgebiet. Das war zwar auch zu DDR-Zeiten schon so, aber damals war die Kneipe am See dennoch rappelvoll. Wer heute den Lehrpfad am Ufer verlässt, auf dem man erfährt, dass der See ein Überbleibsel der Weichseleiszeit und eine Rosskastanie „ziemlich wertlos“ ist, sieht statt einer gemütlichen Restauration nur verfallenes Gemäuer. Der Holzzaun liegt halb vermodert im Moos; nur ein kryptisches Graffito verrät, dass überhaupt mal jemand vorbeigekommen sein muss.
Dabei waren die Müggelberge zu DDR-Zeiten ein überaus beliebtes Ausflugsziel: nicht nur im Sommer, sondern vor allem im Winter. Auf dem schnell zufrierenden Teufelssee konnte man Schlittschuh laufen – Hauptattraktion aber waren die drei Rodelbahnen, die „große“ 800 Meter lang und damit die mit Abstand längste Piste der Region. Die Rodelfreunde kamen nicht nur aus der Innenstadt, sogar Kinder aus Strausberg oder Bernau scheuten die eineinhalbstündige Anfahrt nicht, um einmal einen olympischen Bobwettkampf nachspielen zu können. Und wenn der mitgebrachte Schlitten zerbrach, konnte einfach ein neuer ausgeliehen werden.
Diesen schneeweißen Freuden machten nicht die milderen Winter der Neunzigerjahre ein Ende – die Naturschützer schlugen zu. Im wahrsten Sinne des Wortes: Weil der Auslauf der Rodelbahnen an den geschützten Teufelssee führte, wurden Bäume gefällt und über die Bahnen gelegt, um diese unpassierbar zu machen.
Heute macht Umweltschützern und Förstern eine andere Spezies von energiegeladenen Groß- und Kleinstädtern zu schaffen: die Mountain-Biker. Sie lieben die rasanten „Downhill“-Fahrten – querfeldein die steilen Hänge des Kleingebirges hinab. Das reißt junge Sträucher um, zieht tiefe Rinnen in den moosbewachsenen Boden. Bei starkem Regen wird die Erde ausgewaschen – die Müggelberge, die der Brandenburger Heimatdichter Theodor Fontane als das „hohe Schloss dieser Lande“ bezeichnete, lange bevor die Wendenfürsten in die Spreegegenden kamen, werden nach und nach abgetragen.
Der kapitalistische Fit-for-Fun-Fortschritt könnte also – hielte die Mountain-Biking-Modewelle einige Generationen an – jenes urgesellschaftliche Germanen-Idyll hinwegraffen, das Fontane begeistert beschrieb als die „naturgebaute, wasserumgürtelte Feste, die von den germanischen Häuptlingen jener Epoche bewohnt wurde – der Sumpf ihr Schutz, der Wald ihr Haus“. Immerhin bis zu 50 Biker sollen sich an Wochenenden in den Buchen- und Mischwäldern zu Hause fühlen; sogar illegale Rennen haben die Berge schon erlebt, berichten Radsportfans enthusiastisch im Internet.
Wer abseits der Wege Anzeichen der zivilisatorischen Zerstörung germanischer Erde nachspürt, wird – wer sucht, der findet immer – schnell fündig: tiefe Furchen sind in den Waldboden gegraben, vermodernde Eichenblätter von unten nach oben gekehrt. Aber waren hier wirklich Biker am Werk, oder doch eher Wildschweine?
Von marktwirtschaftlichem Fortschritt ist oben am Müggelturm wenig zu sehen. Der achtstöckige Turm, 82 Meter über dem Meeresspiegel, befindet sich inmitten eines von Bauzäunen umgebenen Areals, das den Charme verfallener DDR-Architektur versprüht – nur gebaut wird nicht. Das Restaurant ist seit Jahren geschlossen, an einem Imbissstand gibt es für zwei Euro Berliner Weiße. Besucher können die 124 Stufen zur Turmspitze ersteigen, für Erwachsene kostet das Vergnügen einen Euro, für Kinder die Hälfte. Bei Regen ist geschlossen, bei schönem Wetter allerdings werden die Besucher mit einem Blick auf die weit im Süden liegende riesige Luftschiffhalle der Cargolifter AG belohnt, die gerade in die Insolvenz geführt wird.
Die Müggelturm-Pleite möchte Wolfgang Gerber verhindern. Der langjährige Pächter des Areals erblickt jetzt nach jahrelangem Hin und Her mit Banken und Behörden einen Silberstreif am Horizont. „Wir können im nächsten Jahr mit dem Abriss beginnen.“ Knapp zwei Jahr später könnte das neue Müggelturm-Areal fertig sein: mit Hotel, Veranstaltungsort und einer Art Turmpyramide – alles im Baustil der 20er-Jahre. Rund 15 Millionen Euro will ein Investor aufbringen, 80 Arbeitsplätze sollen entstehen.
Der Senatsbauverwaltung waren die Pläne bislang eine Nummer zu groß. „Wir haben es mit einem denkmalgeschützten Areal innerhalb eines Erholungsgebietes zu tun“, sagt eine Behördensprecherin. Ein Hotel, das über die Waldkante hinausragt, sei nicht denkbar. Und dass der Investor einen Yachthafen am Langen See geplant habe, sei nicht hinnehmbar. „Dort besteht absolutes Bauverbot.“ Mittlerweile sei man aber auf dem Weg, einen Kompromiss zu finden.
Sollte das Projekt verwirklicht werden, ist es mit der beschaulichen Ruhe auf dem Berg, den im Moment nur einige Besucher täglich erklimmen, auf jeden Fall vorbei – abgesehen davon, dass das Gelände in der Einflugschneise des künftigen Großflughafens Schönefeld liegt. Ganze Busladungen Touristen sollen dann nämlich vom Zentrum in die grüne Vorstadt gekarrt werden. Spätestens wenn der Kapitalismus auch auf der höchsten Berliner Erhebung seinen Triumph feiert, hat der Imbissbesitzer im Gebirgsvorland wieder Grund zu lachen. Und am Müggelturm müssen die Spötter verstummen, die an eine Wand kritzelten: „Vielen Dank für die schönen Stunden auf dem Müggelturm – voll assi … ähh ossi.“
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