DIE „WELT“ BRINGT NICHTS NEUES ZU REICH-RANICKIS GEHEIMDIENSTZEIT: Fehlanzeige
Marcel Reich-Ranicki hat für den polnischen Geheimdienst gearbeitet. Das klingt sensationell. Und das soll es auch. Denn die Welt hat Reich-Ranickis Personalakten gelesen und aufgelistet, was dort an Schrecklichem über den Literaturpapst zu finden ist. Allerdings: Die Geschichte ist acht Jahre alt. Schon 1994 kursierten Blätter aus Reich-Ranickis Akte. Irgendjemand von seinen alten Feinden hatte Zugang zum Geheimdienstarchiv und die interessantesten Seiten Personen zugespielt, die daraus eine Skandalgeschichte machen sollten.
Das war 1996. Fragt sich: Gibt es etwas Neues? Hat Reich-Ranicki auch nach 1950 noch für den polnischen Geheimdienst gearbeitet? Hat er vielleicht aus Deutschland berichtet? Nein. Hat er jemandem geschadet? Nein, auch nicht. Wieder Fehlanzeige. Hat er in seinen Lebenserinnerungen gelogen? Nein. In dem Buch „Mein Leben“ fehlen manche Details, doch Reich-Ranicki schreibt, dass er nach der Befreiung aus dem Warschauer Ghetto für seine Retter gearbeitet hat – für die linksnationale, von Moskau unterstützte Untergrundbewegung. Und darum geht es wohl im Kern. Denn nach gängigem Verständnis in Polen hat sich Reich-Ranicki, kaum den Nazis entronnen, der falschen Seite angeschlossen. Statt mit der rechtskonservativen Armia Krajowa, der Heimatarmee, kämpfte er mit der Volksarmee. Dass dies seine Lebensretter waren, wird dabei gern vergessen.
Für die Polen ist das eine große Geschichte: ein Jude, der mit den Kommunisten zusammenarbeitete und dann zu den Deutschen überlief. So was liest man gerne auf der anderen Seite der Oder. Die Gazeta Wyborcza und das Nachrichtenmagazin Newsweek Polska haben dem Welt-Korrespondenten gleich zwei Seiten für diese Story zur Verfügung gestellt. Doch warum sollten sich die Deutschen für diese „Geschichte nach dem Ghetto“ interessieren, mit der sie gar nichts zu tun haben? Vielleicht mag die Welt Reich-Ranicki nicht. Vielleicht war das Sommerloch schuld. Vielleicht läuft aber auch einfach wieder mal jemand in Warschau herum und will dem Juden, der zu den Deutschen überlief, eins auswischen. GABRIELE LESSER
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