: Theo will nach Pisa
Viermal schlafen noch, dann ist Einschulung für 13.733 Erstklässler. Doch wer sein Kind zur Schule schicken will, muss erstmal Einkaufen gehen
von KAIJA KUTTER
Wo ist das Radiergummi, wo der Anspitzer mit Deckel? Sind alle Schnellhefter noch da: rot, grün, blau, gelb, weiß? Theo (6) packt seinen Ranzen aus und wieder ein. Bange Frage: Haben wir alles von der Liste. „Die Liste“ ist bisher einziges Bindeglied zur Schule, die überüberübermorgen beginnt. Die uns wegen voller Klassen erst nicht aufnehmen konnte, dann aber doch eine Einladung samt Lehrer-Foto schickte.
Einmal blieb sie im Garten liegen und ist nass geworden, die Liste. Seither trägt Mama sie immer in der Hosentasche. 23 Dinge verlangt die Schule. Federtasche (ohne Füller), 1 Satz Wachsmaler, 2 Bleistifte (1x dick, 1x dünn), 1 Satz Buntstifte und besagtes Radiergummi, Anspitzer und Mappen sollen am ersten Tag mit. Schere, Klebstift, Uhu-Tube, Pinsel in den Größen 10, 12 und 14, Tuschkasten Marke Pelikan, rote Turnhose, weißes T-Shirt, Mitteilungsheft, Lappen, Malerkittel, eine stabile Sammelmappe, ein Ablagekorb, Hausschuhe und ein Schuhkarton am zweiten und dritten Tag. Kosten ohne Ranzen und Schultüte: 140 Euro.
„Haben Sie schon alles zusammen?“, fragt die Mutter von Jana*, die in die gleiche Klasse kommt wie Theo. Sie habe sich nach der roten Hose „halbtot“ gesucht, erst in Stuttgart eine bekommen, „und die hat weiße Streifen“. „Macht schon nichts.“ „Ob der Lehrer streng ist?“, überlegt die Mutter. „Der sieht so jung aus. Nachher hat der die Klasse nicht im Griff.“
Zurück zu der Hose: Tatsächlich, im Sportgeschäft gibt es keine rote Turnhose. „Der Junge kommt zur Schule, nicht zum Militär“, beschwichtigt der Vater. Da kann die Turnhosenfarbe wohl egal sein. Aber wenn er nun der einzige ohne passendfarbige Hose ist? Sorgen einer Mutter.
Wozu wohl die fünf Hefter gut sind? „Das ist, weil die wie wild kopieren. Kinder bekommen heute kaum Bücher, sondern Kopien“, erzählt die Mutter einer Drittklässlerin. Immer kurz vor Schulbeginn treffe sie im Kaufhaus türkische Mütter, die verzweifelt seien, weil sie nicht wissen, was „Schnellhefter“ bedeutet.
Wir gehen lieber gleich in den Papierladen, wo noch beraten wird. Ein ganz normales Schulheft brauchen wir laut Liste nämlich auch. Wir erhalten ein schrillbuntes Exemplar, verziert mit zehn Schriften, Graffiti und Bravo-Werbung in Signalfarbe. Die heutigen Kinder leiden an einer Überflutung von optischen Reizen. Fein, haben sich die Hefthersteller gedacht, stiften wir noch mehr Wirrwarr dazu.
Der Hersteller zeigt Einsicht: „Wir sind lernfähig. Die nächste Serie wird ganz schlicht“, verspricht der Marketing-Leiter. Für die „Bravo-Werbung“ habe man ohnehin „ganz viel auf die Mütze gekriegt“. Doch auch die Konkurrenz ist nicht besser. Drehende Karussells, durchs All schwebende Astronauten, Computer und Innereien aus Maschinen zieren die Hefte und stimmen auf Karriere ein.
Viele Mit-Mütter aus dem Kindergarten sind schon ganz nervös, manche schlafen schlecht. Schulstart regt auf. „Eine immer beschäftigungsärmere Gesellschaft führt dazu, dass die Sorge der Eltern um den Schulerfolg der Kinder viel zu früh einsetzt“, sagt der Erziehungswissenschaftler Peter Struck. Und Pisa habe zudem den „Nebeneffekt“, dass Eltern schon bei Fünfjährigen anfangen, „Grundlagen zu legen“, wie Rechnen, Schreiben, Lesen. Struck: „Dabei sind das die falschen Grundlagen. Viel wichtiger ist zuhören und reden zu können, das Neinsagen und die Kreativität.“ Auch warne er, Kinder zu früh zu fördern, sie langweilen sich sonst später. Es sei gut, kurz nach der Einschulung bei den Hausaufgaben daneben zu sitzen, „allerdings nur, wenn das Kind es will“. Eltern seien oft „zu dicht“ an den Kindern dran. „Das fördert Unselbstständigkeit.“
Peinlich berührt räumt die Autorin die Lese-Lern-Spiele ins hinterste Regal. Theo kann kaum lesen. Er hat aber auch kein Problem damit. „Lass mal Mama“, hat er schon vor Wochen gesagt. „Das lerne ich in der Schule“.
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