: Du darfst nicht vergessen zu essen
Hühnerbeine mit Pommes, Möhren-Nuss-Johannisbeer-Kuchen, Falafel, Milchschaum und andere Köstlichkeiten: Der Lausitzer Platz in Kreuzberg sieht am schönsten von woanders aus. Nichtsdestotrotz kann man hier prima seinen Sommerspeck pflegen
von ANDREAS BECKER
Die schönste Aussicht auf den Lausitzer Platz hat man von einem künstlichen Hügel gegenüber. Wer auf dem Spreewaldbad steht, sieht einen rot verklinkerten, etwas massigen Kirchturm, davor die gelben Zügen auf der Hochbahn und viele Bäume. Dann läuft man am immer noch absurd trocken liegenden, teils eingezäunten Pamukale Brunnen vorbei durch den Görlitzer Park hinunter zur Straße.
Hier trifft er höchstwahrscheinlich auf Leute, die gerade ein Hühnerbein abkauen und dazu Pommes futtern. Das „Hühnerhaus“ ist sehr beliebt, die Hähnchen sind knusprig, ein halbes kostet 2,25 Euro, mit Pommes 3,50. Autos halten hier extra an, ein kleines Schild weist darauf hin, dass man die ovalen Silbertabletts nicht mit ins Auto oder in den Park nehmen soll. Die müssen sonst ständig nachgekauft werden und die Broiler werden teurer. In diesem Sommer hat der Imbiss neben dem Pavillon kleine Plastikhöckerchen aufgestellt, die beim Ordnungsamt nicht als Stühle gelten. Sonst bekäme man Ärger wegen eines fehlenden Klos. Was übrigens ungerecht ist, da in Einkaufscentern wie den Potsdamer Platz Arkaden auch nicht jedes Restaurant ein Klo nachweisen muss.
Wer nun unter der Hochbahn hindurch auf den Lausitzer Platz tritt, steht vor dem Turm der Kirche. Auf der kleinen Rasenfläche hätte mich fast einmal eine Tränengasgranate an der Birne getroffen, das war an irgendeinem ersten Mai der Achtziger, als hier lustig die Autos brannten. Kirchen wollen ja einladend sein (sind sie meist nur nicht), diese hier macht aber einen recht hellen, unmuffeligen Eindruck. Sehr modern sieht’s drin aus, rechts ist ein kleiner Gebetsraum, im Foyer verkauft man allerlei Dritte-Welt-Solikrams, Klamotten, Kaffee, Tee. Links herum ist ein helles „Welt Café“ mit Sicht ins Grüne, die Athmo ist ein wenig sehr sozialarbeiterisch, die Öffnungszeit ist auch ulkig, nur nachmittags. Toll ist es, einfach mal den Fahrstuhl zu betreten. Damit kann man mal heimlich einen Teil des Kirchturms rauffahren.
Im dritten Stock liegen Decken von Yoga-Kursteilnehmern rum, und wer beim Hähnchengrill die Toiletten vermisst, findet hier welche mit einer Superaussicht auf den Platz. Sogar eine funktionsbereite Dusche ist vorhanden. Zurück geht’s durchs Glastreppenhaus. Unten wird einem erst klar, dass nur der Kirchturm eine alte Substanz hat, der Rest der Kirche mit dem großen Saal ist irgendwann nach dem Krieg neu gebaut.
Gegenüber am Platz lockt nun das Kattelbach. Vor einiger Zeit ist das Restaurant vom Oranienplatz, wo es zwar beliebt, aber ungünstig gelegen war, hierher gezogen. Damit ist endlich auch die vordere Ecke zur Skalitzer belebter als vorher. Links ist eine Schule, dann kommt ein Mexikaner. Zwei, drei Häuser weiter ist ein lustiger Mischmaschladen. Draußen hängt eine Pall-Mall-Uhr mit Temperaturanzeige, drin gibt’s Tabak, Zeitungen, Katzenfutter, Toto, Lotto und eine große Auswahl an Lampen. In dem Haus daneben wohnte mal eine Freundin, die ewig doof in der Sonnenallee in meiner alten Ein-Zimmer Wohnung gelebt hatte und hier nun einen prima Blick vom Balkon genoss. Nun wurde sie aber ganz schnell schwanger und zog deshalb leider zu ihrem Freund nach Hamburg. Auch die Frau, die danach hier wohnte, wurde sofort schwanger.
Freitag ist der beste oder jedenfalls gesündeste Tag auf dem Lausitzer. Dann ist Ökomarkt. Es gibt einen Käsestand von Exjunkies von Synanon, der ist aber nicht so frequentiert wie der „normale“ Käsewagen. Dann ist eine Biobäckerei vertreten, in deren Wagen eine supernette Verkäuferin einen anlächelt und Milchkaffee aufschäumt, dazu ein Stück Möhren-Nuss-Johannisbeer-Kuchen. Ein kleiner Blumenstand hat ganz viele Gewächse für Gartenbesitzer. Hinter den Exjunkies, die irgendwie nie wirklich aussehen wie Exjunkies, verkaufen sehr, sehr kurzhaarige Frauen Gemüse. Sie sind von der Bäuerinnen GbR und sehen geläutert wie typische Exjunkies aus. Das Publikum ist ziemlich relaxt und recht gemischt, einige bürgerlichere Gestalten wechseln mit echten Vollprolls, teilweise sehr dick. Es gibt auch einen kleinen Schmuckstand und einen mit dänischen Holzschuhen, Clogs, in Rot oder Schwarz.
Gleich gegenüber des Ökomarkts ist das Café V. Das V steht für vegetarisch, ist aber so merkwürdig stilisiert dunkelrot an die Wand geheftet, dass es mich immer an ein anderes V erinnert. Es hat was von dem V der Vereinigung der Naziverfolgten. Bei den V-Leuten ist es lecker, und der Kaffee hat tollen Schaum, vielleicht rühren diese finsteren Assoziationen nur vom vielen Fleischverzehr. Auf der anderen Platzseite zum Beispiel im Baraka, einem marokkanisch-ägyptischen Restaurant. Das sieht innen aus wie eine Grotte mit ganz vielen Kieselsteinen im Mörtel. Es gibt natürlich Falafel, aber auch diverse leckere andere Gerichte, zum Beispiel mit Lamm. „Unsere Köstlichkeiten lassen sie in Sekundenschnelle 18 Jahre und drei Monate jünger aussehen“ steht in der Speisekarte. Bei einem Orangen-Karotten-Saft liest hier mancher gern das erste Kapitel von Sven Regeners Herrn Lehmann, das auf dem Lausitzer Platz beginnt.
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