: Mehr Land für die Elbe
Wolfgang Pauli aus Unbesandten nahe Wittenberge weiß, dass sich der Fluss zurückholt, was er braucht
aus Lenzen THOMAS GERLACH
„Am Elbdeich 4“ – die Adresse sagt alles. Wolfgang Pauli aus Unbesandten, einem Dörfchen nordwestlich von Wittenberge, mauert sich ein. Durch den Garten, vor zum Tor: Da ist der Deich und da ist das Wasser. Sämtliche Türen werden hüfthoch zugemauert. Margot und Wolfgang Pauli wohnen in einem fast 200 Jahre alten niederdeutschen Zweiständer-Hallenhaus. „Eigentlich ist es ungerecht, dass so ein Hochwasser jetzt die Elbe herunterkommt,“ sagt Pauli. „Es ist doch überraschend, dass es auch die Elbe nicht packt, der naturbelassenste Fluss Mitteleuropas.“
Er sticht die Schippe in einen Erdhaufen und winkt ab. Was ist gerecht, was ungerecht – moralische Begriffe sind völlig überflüssig. Überflüssig? Auch so ein Wort. Jetzt ist nicht Zeit zum Sinnieren. „Das heißt doch, dass auch die Elbe nicht mehr naturnah genug ist.“ Für so einen Satz braucht er zwei Augenblicke. Bei Wolfgang Pauli – löchriges T-Shirt, kurze Jeans, Haarbüschel auf Kopf und Kinn – überschlagen sich Wörter und Sätze. Er hat etwas mitzuteilen: Der Elbe möge man mehr Land zum Ausbreiten geben, als ihr seit Jahrzehnten zwischen Deichen zugestanden wird.
Diese Predigt hört nicht jeder gern. Pauli wiederholt sie auf der Straße, in Leserbriefen: Auf sieben Kilometer Länge soll der Deich bei Lenzen um über einen Kilometer zurückverlegt und der Elbe dreihundert Hektar altes Überflutungsgelände zurückgegeben werden. Das Projekt wird seit 1994 vom Biosphärenreservat „Flusslandschaft Elbe-Brandenburg“ verfolgt. Wolfgang Pauli sehnt es herbei. Er kennt jedes Elbdorf bis hinauf nach Dresden, er ist rauf- und runtergepaddelt, er ist vernarrt in den Fluss. Man sehe doch jetzt, dass sich die Elbe sowieso zurückholt, was sie braucht, sagt er, blickt auf die Sonnenkollektoren im Garten und ist ratlos. „Wie soll ich das denn sichern?“
Die Bauern ringsum verladen schweigend ihre Kühe. Mancher fürchtet durch das Projekt Ertragseinbußen, andere fürchten Wasser im Keller. Und Gerüchte gibt's. Die Verantwortlichen hätten den Deich schon geöffnet, obwohl es den neuen, zurückverlegten Damm noch gar nicht gibt. Und jetzt bedrohe das Wasser die Menschen. Die Bauern sind unruhig. Mit Erde und Wasser ist das so eine Sache, da hängen Gefühle dran, die kaum zu beschreiben sind. Der Fluss ist Bedrohung, Land bietet Schutz und Nahrung. Jetzt sollen sie das wieder hergeben? Wolfgang Pauli hat zwar die Argumente, doch die Bauern denken mit dem Bauch. Geld könnte helfen, die Vorbehalte zu nehmen, sagt Pauli. „Soll man es doch honorieren, wenn sie sich auf extensives Wirtschaften einlassen.“
Die Elbe hat den Deich erreicht. Neulich hat Wolfgang Pauli eine Wasserwaage auf die Deichkrone gelegt und wie mit einem Gewehr das Haus angepeilt, um zu sehen, wie tief es liegt. Er blickte genau in ein Fenster hinein. Und nun mauern sie. Die Elbe fließt hier noch idyllisch gen Hamburg, es passt nicht zu den Bildern aus Wittenberg und Dresden. Nur hinter Paulis Haus zwischen Boje und Deich wirbelt das Wasser, kräuselt sich, ist unruhig und gluckst, als ob hier gleich eine Undine aus den Fluten steigen würde.
Das könnte Pauli gefallen. Er würde sie wie der verliebte Ritter Huldbrand an die Hand nehmen, er würde ihr die 300 Hektar zeigen, den „Bösen Ort“ bei Lenzen, wo die Elbe mit aller Macht gegen den Deich drückt und wo der Fluss sich in ein paar Jahren das neue, alte Überflutungsgebiet zurückholen wird. Er würde ihr die Eichen zeigen und den neuen „Lenzer Kuhblank“, den wiederaufgeforsteten Auwald. Vor 200 Jahren hat die Stadt Lenzen den alten Kuhblank gegen Gulden nahezu komplett an holländische Schiffbauer verklingelt. Die Schiffe sind längst abgetakelt oder gesunken, Undine ist nicht aus der Elbe gestiegen und Wolfgang Pauli ist kein Ritter Huldbrand. Er mischt Lehm mit seiner Frau und mauert.
Über Lenzen ziehen Hubschrauber mit Sandsäcken genau dorthin, wo nach den Plänen des Biosphärenreservats der Deich „aufgeschlitzt“ werden soll. In einem Keller des Landschaftspflegeverbandes „Lenzer Elbtal“ e. V. am alten Bahnhof ist das alles schon zu sehen und zu fassen. Dort steht ein Landschaftsrelief groß wie ein Billardtisch. Manches ist hier auf Tische geräumt, manches fortgeschafft, das Relief blieb stehen, darauf ist Wolfgang Paulis Gehöft zu sehen, die „Kuhblank“, der „Böse Ort“, das Flüsschen Löcknitz, die Stadt Lenzen und die Elbe natürlich.
Das Modell ist aus einer Zeit, als die sozialistische Landwirtschaft Überflutungsgebiet entwässerte und das als Bodenverbesserung feierte. Was vor 30 Jahren als Modell für die Trockenlegung gut war, ist heute ein prima Blick in die Zukunft. Auf dem Relief ist der alte Deich an sechs Stellen geöffnet und der Hinterlanddeich schon gebaut. In Wirklichkeit geht das alles langsamer, doch das Projekt ist abgesegnet. Ein Großteil der Gelder aus Brüssel und Potsdam ist beisammen, sagt Frank Neuschulz, Leiter des Biosphärenreservats.
Die jetzige Flut dürfte so manchen Skeptiker überzeugen. Im nächsten Jahr beginne das Planfeststellungsverfahren, zwei Jahre seien für den Deichbau angesetzt. Wenn alles klappt, könnte 2007 das Projekt abgeschlossen sein. Diese Deichrückverlegung wäre dann die erste in dieser Größenordnung in Deutschland. Gleich nach der Wende habe es Überlegungen zum Deichrückbau an der Elbe gegeben und man habe 50 Projekte angedacht. Übrig geblieben sind drei: eines im nördlichen Sachsen-Anhalt, eines in Niedersachsen und dieses Projekt hier auf dem Relief.
Neben dem Modell hängen Zettel mit Erinnerungen, die wie Grüße aus der Zukunft wirken: 1921 habe man bei Wootzen den letzten Stör gefangen, ein Riesentier mit über einem Zentner Kaviar. „Hier war früher genug Eichenwald, der begann hinter der Brücke und ging bis runter zur Elbe“, erinnert sich ein Alter. „Unsere Vorfahren haben uns das immer vermittelt.“ Nur: Irgendwann haben die Jungen nicht mehr gehört.
In Unbesandten hat Margot Pauli Topfpflanzen auf ein Gerüst gestellt, die Solaranlage hat ihr Mann mit Heuballen und Folie gesichert. Aus dem Radio kommen Nachrichten, die nicht beruhigen. Jetzt mauern beide die „Groot Döör“, das große Tor zur Straße, zu. „Das ist ganz fetter Lehm!“, ruft Margot Pauli, „da kommt kein Wasser durch.“ – „Wir hoffen! Wir hoffen!“, bremst Wolfgang Pauli die Zuversicht. „Wir haben ja auch keine Erfahrung.“ Es ist zwiespältig mit dem Fluss in diesen Tagen.
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