: Gottfried Benn beim Poetry-Slam
Dichtende Ich-AGs: Im LCB wurden von Michael Braun Schnappschüsse zum Stand der jungen Lyrik vorgestellt
Da mögen die Feuilletons der überregionalen Zeitungen von einer neuen „Gedichtblindheit“ der literarischen Öffentlichkeit sprechen. Oder den auf hohe Umsätze bedachten Verlegern „Verweigerungshaltung“ gegenüber dem Quotenkiller Poesie vorwerfen. Lyrikkenner Michael Braun will dennoch partout nicht an das Ende der deutschen Dichtung glauben: Während die Sonne pompös in der Riesenbadewanne des Großen Wannsees versank, macht der renommierte Heidelberger Vers-Experte einen „selbsttätig organisierten poetischen Diskurs“ in einer subversiven Offszene aus.
Die sechs jungen Lyriker selbst, die sich an zwei Abenden in den bequemen Fauteuils des literarische Colloquiums am Wannsee räkeln durften, waren da eher skeptisch. Gibt es tatsächlich einen Trend zu literarischen Parallelaktionen im Freiraum einer Non-Profit-Subkultur? Stellvertretend für die im edlen Ambiente zu feiernde „junge Lyrik 2002“ konterte die in Hamburg lebende Sabine Scho, auch den Nachwuchspoeten gehe es doch vor allem darum, Anschluss an die offiziellen Literaturzirkel zu bekommen.
Scho hat es schon geschafft. Ironischerweise erscheint ihr erster Gedichtband in einer Reihe des Europa-Verlags, die mehr oder weniger tote und vergessene Dichter für das geneigte Publikum „wiederentdeckt“. Mit ihrem „Album“ präsentiert die 1970 geborene Hamburgerin ein solides Werkstück mit klarem literarischem Vorbild: Arno Schmidt und seine „snap-shot“-Theorie.
Scho hat Schnappschüsse eines beim Trödler erstandenen Fotoalbums aus den Fünfzigerjahren zur Hand genommen, sich auf Bildausschnitte eingezoomt und dann losgelegt. Entstanden sind Zitatcollagen aus zeitgenössischen Sprachfetzen und Redensarten inklusive Minizitaten aus Schmidts Frühwerk. Wenn bei Blende acht die Sonne lacht, Hartmut im braunen Diercke-Atlas Teneriffa sucht oder an der Front bis zum Fotofinish geknipst wird, stellt sich ein merkwürdig anachronistisches Gefühl ein. Verstärkt wurde dies durch Schos pathetischen Wochenschau-Tonfall.
Einen strategischen Brückenkopf in die deutsche Vergangenheit hat auch Hendrik Jackson gefunden: In seinem Debütband „Einflüsterungen von seitlich“ begibt sich Jackson in die Welt des charismatischen Luther-Gegners Thomas Müntzer. Jackson ist fasziniert vom engen Zusammenhang zwischen „Geist und Wort“ im Zeitalter der Religionskriege, davon, dass aus Psalmen Politik werden konnte. Ein bisschen von diesem revolutionären Elan von Gottes Wort und Dichters Beitrag will Jackson wohl in unsere Zeit retten. Unlängst hat er zumindest „95 Thesen über das Flußwasser der menschlichen Seele“ formuliert und einen „Kreuzzug der Poesie“ angekündigt. Was das alles wiederum genau bedeuten soll, wollte er dem Publikum auch auf Nachfrage aber nicht verraten.
Offenbar ist seit der geistig-moralischen Wende eine komplett neue Generation von Black Boxes deutscher Innerlichkeit nachgerückt. Auch der Marktwert der Dichter weist darauf hin, dass die klassischen Originalgenies schlicht und einfach zu Ich-AGs mutiert sind – leben kann von den Versen niemand, man verdingt sich deswegen in diversen prosaischen Brotberufen. Mit besonderer Fassung trug Volker Sielaff sein schweres Los, noch keinen Verlag gefunden zu haben: „Dann eben nicht!“ Der 1966 geborene Dresdener ist ein präziser Beobachter, der ohne inflationäre Metaphern auskommt, ja geradezu auf der Hut ist vor den zu gewaltigen, nicht abgewogenen Worten.
Solchermaßen gerüstet rückte Sielaff dem Hals von Lee Miller – der Freundin Man Rays – ebenso zu Leibe wie der Büste der Nofretete. Ähnlich diskret gingen die Nachwuchspoeten Jan Wagner und Silke Scheuermann zu Werke. Detailbesessen, aber immer auch mit dem Blick auf das große Ganze stellten sie vom Froschschenkel bis zur Supernova ihre Sicht der Dinge dar. Wem all das zu harmlos war, der wurde schließlich durch den Auftritt des Münchner Arztes und Großmystikers Uwe Tellkamp zufrieden gestellt. In dessen expressiven Long-Poems geht es schlicht um alles, vor allen Dingen aber um den gewaltigen Mahlstrom der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert – von den Verbrechen der Wehrmacht bis zu den Gebrechen der NVA.
Einen kleinen Ausschnitt des blutig verschorften Weltgedichtes präsentierte Tellkamp sozusagen auswendig zu Fuß, indem er dicht vor dem Publikum rezitierend atemlos auf und ab marschierte. So ein bisschen wie Gottfried Benn beim Poetry-Slam. Nach diesem Auftritt war man dann aber auch wirklich froh, dass damit das Album der jungen Lyrik erst mal wieder geschlossen wurde.
ANSGER WARNER
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