: Kein Platz an der Sonne
In Deutschland wird gewahlkämpft – immer dabei: der Sonnenschirm
Als vor etlichen Jahren der enorme Künstler Joseph Beuys in einem Lied mehr „Sonne statt Reagan“ einforderte, bedachte er vielleicht nicht, dass die Politik sein Plädoyer für die „Sonne“ mit einem geradezu lächerlich einfachen Mittel kontern würde – mit einem Sonnenschirm nämlich, genauer: jenem kreis- oder bezirksverbandseigenen Parteisonnenschirm, der die ehrenvolle Aufgabe hat, den Fußgängerzonenstützpunkt seiner Partei zu überdachen, zu schmücken und im Verbund mit Papierfähnchen, Kugelschreibern und Luftballons ästhetisch zu komplettieren, sowie aufs Freundlichste, ja, eben abzuschirmen, sei’s vom Wetter, sei’s von fallenden Blumentöpfen, sei’s von einem allgemeinen Gefühl der Unbehaustheit oder sei’s generell von allem, was von oben kommt.
Ohne ihn, den Sonnenschirm, ist in den letzten Jahrzehnten ein Fußgängerzonenauftritt der Parteien undenkbar geworden, ohne ihn könnte die kräftezehrende und unverzichtbare Basis- und so genannte Kärrnerarbeit kaum mehr geleistet werden, ohne ihn gäbe es womöglich gar keine politischen Parteien mehr. Ohne ihn wäre das politische Leben in der Bundesrepublik Deutschland praktisch tot.
Der Sonnenschirm – wer hätte das gedacht! Zumal in Deutschland, sollte man meinen, weit eher und plausibler der Regenschirm ins Parteiequipment aufzunehmen wäre. Da kann es wochenlang durchregnen, da kann die Flut kommen und ganze Landstriche kassieren, da brechen alle Dämme – der deutsche Politiker postiert sich ungerührt unter seinem Sonnenschirm. Niemand lacht ihn aus. Kein Arzt kommt, um ihn einzuweisen.
Wie und wodurch der Sonnenschirm eine derartige Bedeutung erlangen konnte, ist nicht ohne weiteres zu ermitteln. Keiner weiß Genaues. Spekulationen schießen ins Kraut. Manche glauben, dass es der deutschen Politik, seit der Sonnenschirm seinen Posten am Rand der Fußgängerzone bezogen hat, nicht mehr um einen Platz an der Sonne gehe, nur noch um einen unterm Sonnenschirm. Die Politiker von heute, behaupten sie, seien keine unberechenbare Heißsporne mehr, sondern kühle Rechner. Und sie sonnten sich auch nicht in ihren Erfolgen, sie machen ihren Job.
Alle Macht in diesem Lande geht keineswegs vom Volke aus, sondern vom Sonnenschirm. Wer ihn sieht, macht einen Bogen, beschleunigt den Schritt und versucht, unsichtbar zu werden. Die Angst ist groß, einem Politiker in die Arme zu laufen, und die Erleichterung unbeschreiblich, wenn sich der Stand unterm Sonnenschirm als der von einem Nagelscherenhändler oder Nachttopfset-Verkäufer entpuppt.
War einst der Sonnenschirm der feineren Gesellschaft vorbehalten, soll er nun, als Parteisonnenschirm, offenbar noch immer etwas von der utopischen Aura eines besseren Lebens abstrahlen. Von fern gemahnt er auch an Urlaub und Karibikstrand. Das mag bei Wahlen in kalten, unwirtlichen Jahreszeiten von Vorteil sein. Selbst wenn gar keine Sonne scheint, wenn die Aussichten trübe und die Stimmung verhagelt ist, signalisiert er: Kommet zu uns, ihr armen Seelen, denn wir sind auf der Sonnenseite! Ein Kalkül, das nicht aufgehen kann, denn längst verfügen alle Parteien, von der DKP bis zur NPD, über ein schier unermessliches und unbegrenztes Sonnenschirmreservoir.
Wahlentscheidend wird der Sonnenschirm also nicht sein. Ist darum aber der Umkehrschluss erlaubt, es mache keinen Unterschied, welche Partei man wähle, schließlich stehen sie alle unter einem Schirm? Natürlich nicht. Es gibt nur, ließe sich sagen, einen parteiübergreifenden Konsens, der da lautet: Wir haben alle einen Schatten. RAYK WIELAND
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