: Zu Hause in verwüsteten Tälern
aus Erzgebirge und Sächsischer Schweiz MICHAEL BARTSCH
„Der Regen macht sie heulen als wie Hunde“, heißt es in der Beschreibung des dritten Höllenkreises in Dantes „Göttlicher Komödie“. Der sächsische König Johann, dem im Vorjahr eine Ausstellung auf dem 20 Kilometer vor Dresden liegenden Wettinerschloss Weesenstein im Müglitztal gewidmet war, hat sie Mitte des 19. Jahrhunderts ins Deutsche übertragen. Jetzt ragt das Schloss unzerstört wie eine Erinnerung an die heile Welt aus der Talwüste. „Der Boden stinkt, der solch Gemenge aufnimmt“, schildert der mittelalterliche Gesang so treffend, als hätte Dante von diesen Mauern herabgeblickt.
Bagger haben Geröll zusammengeschoben, um der inzwischen wieder unschuldig dahinplätschernden Müglitz das bisherige Bett zuzuweisen. So als handele es sich um einen einmaligen Zornesausbruch, als das wenige Meter breite Flüsschen zeigte, wer Herr im Tal ist. Provisorische Schüttdämme entreißen dem neuen Flussbett die verschwundene Straße hinauf zum Erzgebirgskamm wieder. Die Täler des Osterzgebirges traf die Flut an jenem 12. August zuerst, ohne Warnung und am härtesten. Kein Rinnsal, das in dieser Nacht nicht Bäume entwurzelt oder Gärten verwüstet hätte. Die abgelegenen Orte mussten auch am längsten auf Hilfe warten, während alle Fernsehkameras noch gebannt auf die Verteidigung von Semperoper und Zwinger in Dresden schauten. Weesenstein ist zur Hälfte ausgelöscht, und derzeit wird diskutiert, was von ihm überhaupt wiederaufgebaut werden sollte. Neun Wohnhäuser verschluckte die Flut sofort, etwa ebenso viele sind inzwischen wegen Einsturzgefahr abgerissen worden. Eine einzelne Mauer, die es verdient hätte, als Mahnmal erhalten zu werden, haben die Bulldozer fast völlig zugeschoben. Auf diesem 5 Meter langen und 36 Zentimeter breiten Rest ihres Hauses, der glücklicherweise längs zur Flussrichtung stand, verbrachten Heiko Jäpel, zwei seiner Kinder und die Großmutter 13 Stunden bis zu ihrer Rettung. Seine Frau Andrea am nahen Hang versuchte verzweifelt, mit dem Handy Hilfe herbeizutelefonieren. Bis heute kann sie nicht begreifen, dass sie dabei wegen Unzuständigkeit vom Pirnaer Landratsamt an den benachbarten Weißeritzkreis verwiesen wurde. Bürgermeister Jörg Glöckner versucht zu begründen, warum es kaum eine Warnung vor der plötzlichen Flutwelle gab: „Nach dem überraschenden Dammbruch bei Glashütte war das Wasser in einer halben Stunde hier.“ Und das enge Tal sei für Hubschrauber schwierig anzufliegen. Jetzt untersucht das Dresdner Polizeipräsidium, warum so viele Stunden bis zur Rettung der Jäpels vergehen mussten.
Auch warum es fünf Tage dauerte, bis schweres Räumgerät den Weg in den Ort fand, verstehen die 180 Bewohner kaum. Beinahe schlagartig geriet Weesenstein dann am vorletzten Wochenende ins Blickfeld der Politprominenz und der Medien, als Außenminister Fischer mit EU-Kommissionspräsident Prodi und den Kommissaren Schreyer und Verheugen einflog.
Inzwischen funktioniert die Hilfe. In drei Kategorien, Rot, Blau und Grün, sind die Häuser des Ortes je nach Ausmaß des Schadens eingeteilt, um die Hilfen und Spenden gerecht verteilen zu können. In Weesenstein profitiert davon auch einer, der sich beim Politikerbesuch völlig verstört sein Schicksal und den Frust wegen der Politik gleich mit von der Seele geschrien hatte. Frank Dittes ist einer der zahlreichen Wochenendpendler, die nur im Westen Deutschlands Arbeit fanden. Dort überraschte ihn die Nachricht von der Katastrophe. Als er eilends zurückkehrte, fand er sein Haus zerstört. Nein, er erwarte von diesen Leuten keine Hilfe, brach es in Hörweite von Joschka Fischer und Romano Prodi unter Tränen aus ihm heraus. „Das sind doch auch nur Leute, die etwas für sich auf die Seite schaffen!“ Die Erklärung Fischers, dieser Besuch diene doch dazu, EU-Geld lockerzumachen, hörte er nicht mehr.
Um solch verstörte Menschen kümmert sich beispielsweise Notfallseelsorger Eberhard Weigel in Königstein, ungefähr 20 Kilometer elbaufwärts von der Mündung der Müglitz gelegen. „Ich erzähle den Leuten jetzt nichts vom kommenden Himmelreich“, erklärt der Pfarrer aus der Nähe von Augsburg. Es gehe erst einmal darum, sie zu begleiten und ihren Geschichten und Klagen zuzuhören. Zum Beispiel der Rentnerin Ruth Krieger, die während der Überschwemmung im thüringischen Gera bei Verwandten war. Dokumente konnte die Schwiegertochter noch bergen, aber sonst „habe ich nicht einmal mehr eine Fußbank“, klagt sie mit zitternder Stimme. Die Stadtverwaltung hat ihr zwar eine Ausweichwohnung in Aussicht gestellt. Frau Krieger wird aber wahrscheinlich erst einmal in Gera bleiben.
Dass viele weggehen könnten, die der wirtschaftlichen Problemregion Sächsische Schweiz bislang noch die Treue hielten, befürchtet die Zahnärztin Ingrid Hentschel. Auch vor ihrer Praxis in einem Ärztehaus türmen sich die Berge zerstörten Hausrats und medizinischer Ausrüstung. Die Elbe hat alles mit einer einheitsgrauen Schlammschicht überzogen, die in der Augustsonne schnell trocknet. Der leicht säuerliche Modergeruch aber hält sich in den Straßen von Königstein, die bis zu vier Meter hoch unter Wasser standen. Ingrid Hentschel weiß noch nicht, ob sie sich für die wenigen Patienten wieder einrichten will, und überlegt, vielleicht nach Dresden zu gehen. „Ich fange nicht bei null an, sondern mit dem Minus eines Kredits!“ Von der Soforthilfe, die der Freistaat Sachsen nicht nur Privatpersonen, sondern auch Gewerbetreibenden und deren Angestellten auszahlt, hat sie noch nichts gehört. Auch das Rathaus nicht. Dort liegen zwar Formulare für die 500 Euro, die jeder Angehörige schwerer betroffener Haushalt bekommt. Abgegeben werden müssen sie aber im 10 Kilometer entfernten Landratsamt Pirna, das das Geld dann aufs Konto überweist.
Inzwischen hat das sächsische Innenministerium diese Richtlinie korrigiert und überlässt eine Barauszahlung den Kommunen. „Wir brauchen jede Minute zum Aufräumen und haben keine Zeit, zum Kreis zu fahren!“, schimpft Kristine Lohse vor ihrem Rundfunk- und Fernsehladen. Immerhin verkauft sie schon wieder etwas: Handykarten für die zahlreichen Helfer aus verschiedenen Bundesländern. Der einzige Informationsweg bei defektem Strom- und Telefonnetz.
Während Rundfunk-Lohses auf jeden Fall weitermachen wollen, zögern andere Gewerbetreibende noch. Ob Königstein je wieder der beliebte Touristenort wird? Achselzucken und Ärger darüber, dass auch bei intakten Hotels oberhalb im Bielatal reihenweise Stornierungen eingehen. Auf dem riesigen Parkplatz vor Königsteins berühmtestem Ausflugsziel, der imposanten Felsenfestung hoch über der Elbe, ist jedenfalls nur ein einziges Auto aus Westdeutschland zu sehen. Auch das angrenzende Osterzgebirge lebt vom Tourismus. Zum Beispiel Wilfried Ziegs, Wirt der Riedelmühle in Waldbärenburg bei Kipsdorf an der Bundesstraße 170. Nicht vor Jahresende werde dieses wichtigste Transitstraße über das Erzgebirge wieder befahrbar sein, sagt das sächsische Wirtschaftsministerium. Bis vor wenigen Tagen gelangte sogar das Räumgerät des Technischen Hilfswerks nur auf einem Skiweg, der Alten Böhmischen Straße, in die oberen Talabschnitte. Vom Parkplatz der Riedelmühle war 1981 schon einmal ein Dutzend Autos heruntergespült worden. Dank einer danach verstärkten Stützmauer muss der Wirt kaum über Gebäudeschäden klagen. Während andere sich über die plötzliche Ruhe an der sonst von Dauerlärm erfüllten Transitstraße freuen, bedeutet der Ausfall des Durchgangsverkehrs für Wilfried Ziegs ein wirtschaftliches Fiasko. Ob die seit 1883 betriebene Schmalspurbahn auf den wie bei einer Achterbahn verdrehten Gleisen je wieder Touristen bringen wird, scheint auch fraglich. Gewinn hatte sie für die Deutsche Bahn schon lange nicht mehr abgeworfen.
Im Kurort Kipsdorf legt Sachsens Umweltminister Steffen Flath am Freitag einen symbolischen Grundstein, paradoxerweise für eine Holzbrücke. Er lässt seinem Erzgebirgsdialekt freien Lauf und findet viel Anklang. Und bei den Männern vom Technischen Hilfswerk in Waldbärenburg kommen trotz Übermüdung und ernster Lage Trinksprüche bei Bratwurst und Freibier auf.
Kinder der Kipsdorfer Jugendhilfeeinrichtung „Waldwiese“ spielen im frischen Sand des riesig vergrößerten Bachbetts. „Ich will noch eine große Flut“, bemerkt ein Plastekipperfahrer lässig. Aber da widersprechen die Spielkameraden. Nein, eine große Flut, die wollen sie nicht noch mal.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen