Suche nach dem neuen Menschen

Der Deutsche Sparkassen- und Giroverband macht’s möglich: Am Wochenende hatte Martin Wuttkes Inszenierung „Podpolje“ nach den „Aufzeichnungen aus einem Kellerloch“ von Fjodor M. Dostojewski auf einem Flugplatz in Neuhardenberg Premiere

von KATRIN BETTINA MÜLLER

In der Totale gehen die Helden verloren. Vom Horizont kehren sie als Antihelden zurück. Bis dahin reicht das Bühnenbild des Stücks „Podpolje“, das Martin Wuttke und Paul Plamper nach Dostojewskis Novelle „Aufzeichnungen aus einem Kellerloch“ auf einem Flugplatz in Neuhardenberg inszeniert haben. Das Publikum sitzt im Hangar und schaut erwartungsvoll über das leere Rollfeld. Ein Wohnmobil quert das Bild und stoppt zwischen den offenen Toren. Marquisen werden ausgefahren, bunte Neonleuchten blinken. Und während der Abendhimmel den Anlass zu schönsten Beleuchtungseffekten bietet, entrollt sich die traurige Geschichte eines Mannes, der „nicht gut sein kann“. Ein philosophischer Diskurs, glitzernd wie ein Roadmovie. Schön ist das.

Stück für Stück entblößt sich die namenlose Hauptfigur (Wuttke). Aggressiv und zugleich immer in der Defensive. Je tiefer er eindringt in das Gebäude seiner Eitelkeiten, desto weniger erträgt er den Blick von außen. Liebe kann er so wenig annehmen wie den Glauben an sich selbst. Er zeigt seine Schmerzen vor und genießt die eigene Erniedrigung. Lisa (Margarita Breitkreiz), die er braucht, um sich und uns seine Boshaftigkeit zu beweisen, und Volker (Volker Spengler), sein Faktotum, der ihm als Diener wie ein ständiger Vorwurf vor Augen steht, schauen ihm manchmal dabei zu. Dann sehen sie fast so aus wie die Neuhardenberger in ihren kleinen Häusern, wenn sie die Ankunft der Kulturtouristen in ihrem Dorf beobachten.

Doch wie kommen Dostojewski und Martin Wuttke nach Neuhardenberg? Die Sparkasse macht’s möglich. Im Mai begann im frisch sanierten Schloss Neuhardenberg eine Stiftung, die vom Deutschen Sparkassen- und Giroverband getragen wird, mit einem spektakulären Veranstaltungsprogramm. Hier wird demnächst Kent Nagano Ligeti und Beethoven in der Parkbühne dirigieren und die Schriftsteller Amitav Ghosh aus Indien und Juan Goytisolo aus Spanien werden sich zum Thema Fundamentalismus äußern.

Weiß leuchten das Schloss und die Kirche, die kein Geringerer als Karl Friedrich Schinkel entworfen hat. Neuhardenberg ist das neue Tagungszentrum der Sparkassenorganisation. Das Programm, das Bernd Kauffmann, ehemals Intendant der Kulturhauptstadt Weimar, nach Neuhardenberg eingeladen hat, trägt das Weltgewissen an diesen Ort. Dazu führt vom preußischen Erbe, das durch Schinkel und den Staatsreformer Karl August Fürst von Hardenberg repräsentiert wird, ein Weg zur Aufklärung: Und schon ist man bei Dostojewskis polemischen Zweifeln an der Hoffnung auf die Erschaffung des neuen Menschen. Seine Novelle, die von Friedrich Nietzsche sehr bewundert wurde, bezog sich auf den utopistischen Roman „Was tun?“ von Tschernyschewski, für dessen besseres Verständnis Karl Marx immerhin Russisch lernte. Ein zweiter Weg vom Kellerloch zum Schloss kreuzt militärisches Gelände: Der nur fünf Minuten entfernte Flugplatz mit grün überwachsenen Bunkern bildet das Gegenstück zur einladenden Landschaft. Er wurde von der Wehrmacht angelegt und seit 1957 von einem Verbindungsfliegergeschwader der DDR genutzt. Heute starten hier Heißluftballons und Zeppeline als Werbeträger. Die Leere des Flugplatz zeugt von auslaufenden Enden und Brüchen der Geschichte.

Aufklärung? Depression! Als Dostojewski die „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ 1863 schrieb, war die Hoffnung groß, dass „im Handumdrehen alle möglichen Probleme verschwinden werden, wenn die neuen wirtschaftlichen Verhältnisse eintreten“. Das Vertrauen galt den Naturgesetzen, die keinen freien Willen des Menchen zulassen: „(…) Folglich braucht man nur diese Naturgesetze zu entdecken und der Mensch wird sogleich für seine Handlungen nicht mehr verantwortlich sein (…)“, beschreibt der Zweifler den allgemeinen Glauben. Ihm aber scheint diese Ablösung vom Willen nicht nur als Beschränkung seiner Freiheit, sondern scheint dazu dem „Charakterlosen“ Vorschub zu leisten.

Ähnliche Symptome des Unglücks finden sich in neuen Texten junger Autoren, etwa bei Igor Bauer-Sima, Gesine Danckwart, Martin Heckmann. „Das heißt, gerade das, was ich als mein Allernatürlichstes empfinde, ist in Wirklichkeit das Allerkonstruierteste in mir, das eigentlich Allerfremdeste, das, was ich ablehne“, sagt Ätz in Heckmanns „Schieß doch, Kaufhaus“. Die Angst, sich selbst nur als Effekt einer Machtstruktur zu erleben, ist in diesen Protagonisten so groß wie der Widerstand von Dostojewskis Erzähler, durch die Naturgesetze erklärbar zu sein. Beide leiden am Misstrauen in die eigene Motivation; sie glauben sich selbst nicht mehr.

Das Spiel von Wuttke, Breitkreiz und Spengler schafft es, diese Unzufriedenheit der Gegenwart überall in dem historischen Text aufleuchten zu lassen: Dieses Hadern mit der eigenen Haltung, dieses Vermissen von ethischen Maßstäben, diese Bewaffnung mit Zynismus, diese dauernden Schuldgefühle. Doch die Selbstanklage hat nichts vom Exhibitionismus der Mediengesellschaft, nichts von der spekulativ inszenierten Peinlichkeit der aufgerissenen Privatheit. Dieser Abstand tut gut – so gut wie der Blick in den Himmel hinter dem Theater.

Infos: Tel. (0 30) 8 89 29 00, www.schlossneuhardenberg.de