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Elend verfestigt sich

Studie über Obdachlose: Die Menschen leben immer länger auf der Straße und sind nur schwer zu erreichen

HAMBURG taz ■ Wer einmal auf der Straße landet, bleibt dort im Durchschnitt knapp vier Jahre: Das ergab die bundesweit bislang größte wissenschaftliche Studie zur Situation Obdachloser. In 117 Hamburger Einrichtungen wurden im März 1.281 obdachlose Männer und Frauen befragt.

Dabei kam heraus: Das Elend verfestigt sich. Während bei einer rein quantitativen Befragung im Jahre 1996 die 30- bis 40-Jährigen ein Drittel der Obdachlosen ausmachten und damit die größte Gruppe stellten, liegt der Schwerpunkt jetzt zwischen 40 und 50. Auch der Anteil der über 50-Jährigen ist gestiegen – auf fast ein Viertel. Mit dem Alter hat auch die Dauer der Wohnungslosigkeit zugenommen: Während vor sechs Jahren etwa ein Fünftel der Befragten angab, schon mehr als fünf Jahren auf der Straße zu leben, waren es jetzt knapp 30 Prozent.

Je länger die Menschen obdachlos sind, desto kranker werden sie, physisch wie psychisch. Bei den Langzeitobdachlosen ist zudem eine große Distanz zum Hilfesystem zu beobachten. Das heißt: Es wird immer unwahrscheinlicher, dass sich ihre Situation je ändert. Immerhin elf Prozent der Befragten sind seit mehr als zehn Jahren ohne Wohnung.

Fast die Hälfte der Befragten gab an, dass sie ihre Wohnung durch Kündigung des Vermieters oder sogar durch eine Zwangsräumung verloren hätten. „Obwohl ein Obdachloser die Stadt sehr viel mehr kostet, als wenn er eine Wohnung hätte“, sagt Dieter Ackermann vom Caritasverband. Das Überleben der Menschen auf der Straße ist bedrückend: Nur knapp 50 Prozent gaben Sozialhilfe als wichtigste Einkommensquelle an und knapp 15 Prozent beziehen Arbeitslosengeld oder -hilfe. Zehn Prozent betteln, genauso viele haben gar keine Einkünfte.

Hilfe erreicht nur einen Teil der Obdachlosen: Über die Hälfte der Befragten gab im März an, dass sie in den vergangenen drei Monaten kein Übernachtungsangebot genutzt hätten – trotz des Winters. Als Grund nannten sie „zu viele Menschen auf engem Raum“. Aber auch die Angst vor Diebstahl, Schmutz, Lärm und Gewalt hält fast die Hälfte der Obdachlosen von Unterkünften fern. Fast zwei Drittel von ihnen gehen davon aus, dass es in Hamburg Gewalt gegen Obdachlose gibt, bei Frauen sind es sogar über 80 Prozent.

Die meisten wünschten sich niedrigschwellige Angebote wie Beratungsstellen, Tagestreffpunkte und Begleitung bei schwierigen Erledigungen. Nur etwa 5 Prozent gaben an, dass ihnen mit einer Wohnung geholfen wäre.

Auch die Situation der Frauen hat die Studie untersucht: Sie stellen nur 20 Prozent der Obdachlosen, sind im Durchschnitt jünger und kürzer auf der Straße. Frauen kommen immer mal wieder irgendwo unter, leben häufig bei Freunden und Bekannten. Bevor sie wirklich obdachlos werden, haben sie häufig schon lange keinen festen Wohnsitz mehr gehabt.

Über die nötigen Konsequenzen aus den Ergebnissen wollen Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) und die Wohlfahrtsverbände nun beraten. Dass es mehr Geld für Obdachlosenhilfe gibt, ist jedoch unwahrscheinlich: Noch im Frühjahr hatte der Senat den einzigen Straßensozialarbeiter im Brennpunkt St. Pauli gestrichen.

SANDRA WILSDORF

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