: Im Rhythmus des Schlafes
In der Kulturszene Jakartas wird Kunst noch als Lebensform gepflegt, wie einst in Europa in den 70er-Jahren. Doch gut ist die Stimmung auch vier Jahre nach dem Ende der Diktatur Suhartos nicht. Indonesien, sagt man, ist ein Land im Übergang. Was heißt das eigentlich? Eindrücke von einer Lesereise
von BRIGITTE OLESCHINSKI
Der Koffer, ein alter Lederkoffer, liegt auf einer Parkbank, und der Schwarm der Kinder, schwarzhaarig, in ihren Schuluniformen, nähert sich achtlos. Sie sind an ein paar stachligen Skulpturen vorbeigekommen, an einem Fahrrad, das mit Flügeln schlägt, dagegen wirkt der Koffer unauffällig. Bis sie nah genug heran sind.
Ich will nicht weg. Es ist absurd, ein Tropenklischee, die europäische Seele infiziert von ihrer eigenen Projektion der Fremde, aber: ich will nicht weg.
Alles hier kann süchtig machen, die Hitze, das ständige Schwitzen und Treiben in Straßen voller Gerüche, in denen sich Autos, Passanten, Fahrräder, Bettler, Mopeds aneinander vorbeischieben, während der Asphalt an den Rändern in losen Dreck übergeht, Platz für die Wände und Stelzen notdürftig zusammengeflickter Schuppen, Marktstände, Läden, streunende Katzen dazwischen, Abfallhaufen, Reklame, die Essensdüfte aus den warungs (Garküchen), immer wieder Ansammlungen von Schuhen vor einem flachen Podest, einer ausgelegten Bambusmatte im Staub, die signalieren: dies ist ein Innenraum, hier gilt der muslimische Reinlichkeitskodex. Oder es ist weniger die Hitze, die süchtig macht, als die Nähe anderer Körper, das strahlende Lächeln überall, die schnelle, witzige Sprache, von der ich nur Brocken verstehe, die Popmusik in diesen Tönen –
Seit zwei Tagen bin ich wieder in Jakarta, am Ende einer Lesetour, die mich durch Universitäten in Zentral- und Ostjava geführt hat, dann nach Madura und Bali, überall bin ich durch die informellen Netze des indonesischen Kulturbetriebs gereist, weitergereicht von Freunden zu Freunden, in Begleitung des einheimischen Dichters W. S. Rendra, dessen Berühmtheit uns die Aufmerksamkeit der Medien sichert, allen Auftritten und Äußerungen demonstratives Gewicht verleiht. Nun, in Jakarta, eine Atempause vor dem Rückflug, letzte Tage ohne Programm und Verpflichtungen.
The Bloody City, sagen sie, stolz. Mobiltelefone überall, Internetcafés, Streetwear. Wir trinken glühenden Ingwerkaffee vor dem Jakarta Art Center, es ist Mittag, zu heiß, um etwas anderes zu tun. Hier scheinen im Laufe des Tages alle vorbeizukommen, die sich als Künstler verstehen, die Filmemacher, Musiker und Maler, die Schauspieler und Tänzer und Multimedia-Performer, jeder begrüßt jeden, jeder hat ein Projekt mit jedem. Kunst hier ist eine Lebensform, sie erinnert in vielem an die alternativen Siebziger in Europa. Dabei gilt, vier Jahre nach dem politischen Ende des Diktators Suharto, die Stimmung als nicht besonders gut.
Indonesien ist ein riesiges Land mit 220 Millionen Einwohnern, verteilt auf ein paar Inseln in der Größe kleiner Kontinente und unzählige kleinere, reich an Bodenschätzen, unterkapitalisiert, die junge Demokratie immer noch in den Händen einer Oligarchie, die Wirtschaft hart getroffen von der weltweiten Krise. Ein Land am anderen Ende der Welt, ein Land im Übergang. Aber was heißt das heute? Sechzehn Millionen Menschen wohnen in Jakarta, wenn man die Stadtränder, Industriegebiete, Schlafhütten mitzählt, chaotischer Verkehr, Slums neben riesigen Banktempeln und Einkaufspassagen, aber auch viele kleinteilige Nachbarschaften, in denen sich die Bindekraft von Traditionen erweist, islamische, hinduistische, christliche Nachbarschaften verschiedener Ethnien und Minderheiten.
Erst ein paar Tage her, dass ich in der Pesantren Al-Amien (Islamisches Internat) ein Kopftuch trug. Der Wagen fuhr schon durch das Internatsgelände, jemand band mir hastig eine Batik um, die gerade zur Hand war. Später, auf den Fotos, finde ich, dass die Verschleierung eher piratenhaft aussieht als Scharia-tauglich. Wir sind Ehrengäste. Die Schule auf Madura, einer Insel im Nordosten von Java, nimmt Kinder ab vier Jahren auf und führt sie bis zur Universitätsreife. Mädchen und Jungen weitgehend – aber nicht völlig – getrennt, die Mädchen bodenlang verhüllt, doch sie lernen dasselbe wie die Jungen. Eine Jugendkapelle in Fantasieuniformen spielt europäische Marschmusik mit Gamelan-Einschlag. Führung durch das Gelände, Tee im Haus des Rektors, Aufstellen zu den Gruppenfotos, das Gästebuch. Der Rektor spricht Englisch und ist in Europa gewesen.
Kein Wort über die aktuelle Weltpolitik. Ich werde durch die Mädchenseite des Raums geleitet, umringt, mit Komplimenten überschüttet: Selbst dürften sie so nicht aussehen, aber mich finden sie in dem Piratenlook schick. Dann, auf dem Podium – unter einem riesigen Banner, auf dem mein Name fast richtig geschrieben ist –, geht es um die Freiheiten der Poesie. In so allgemeinen Wendungen, dass wir alle nur lächeln und einander zustimmen: tolerance, yes, self-exploration, yes, making a better world, yes, yes. Ich kann die Konflikte hinter den Fragen spüren, in holprigem Englisch formuliert, ich versuche, von Eigensinn und Aufrichtigkeit zu sprechen, vom Mut, sich kritisch mit vorgegebenen Antworten auseinander zu setzen. Aber das eigentliche Statement bin ich selbst, mein Auftritt an diesem Ort, zu dem ein raumgreifender Schrei gehört, und die Gedichte, die Wörter wie Lust, Erbrechen, Vagina auf die Bühne bringen –
Als der Islam im 15. Jahrhundert auf die indonesischen Inseln kam, kam er als egalitäre Befreiungsreligion, die eine in Kasten erstarrte Gesellschaft aufsprengte. Er kam nicht aus der arabischen Welt, sondern über die Handelswege aus China, und er kam gleichsam als poetisches Wort. Seine ersten Führer waren die sunan, so genannte Dichterkönige, zu deren Gräbern heute noch zehntausende pilgern – Zehntausende, deren Kleidung erst seit ein oder zwei Jahrzehnten aussieht wie überall in der arabischen Welt. Der Einfluss fundamentalistischer Strömungen, die den traditionell liberalen und synkretistischen indonesischen Islam überlagern, wächst. Obwohl Indonesien sich am „Kampf gegen den Terror“ der US-Regierung beteiligt, gelten die spontanen Sympathien derjenigen, mit denen ich spreche, den arabischen Positionen. Differenziert, abwägend oft, voller Sorge vor der Aufladung von innerindonesischen Konflikten – aber eindeutig. Die Polarisierung in Freunde und Feinde „des“ Islam ist unübersehbar.
Ja, es beunruhigt mich. Bei meinem ersten Besuch waren wir eine ganze Gruppe ausländischer Autoren, angereist zum ersten Internationalen Poesiefestival in Indonesien. Mit etwa dreißig inländischen Dichtern tourten wir durch mehrere Großstädte: verblüfft und überwältigt, wie uns zeitgenössische Poesie in diesem Land ein in die tausende gehendes, begeisterungsfähiges Publikum bescherte. Während wir in Europa längst daran gewöhnt sind, dass Dichtung nur noch als verschworenes Ritual einer minoritären Sekte gilt, erlebten wir dort etwas wie ein aktuelles Bedürfnis, einen Hunger nach Poesie –
Aber vielleicht, denke ich jetzt, in der Hitze vor dem Jakarta Art Center, war es weniger ein Hunger nach Poesie als einer nach öffentlicher Rede, nach der Aura von Bühnenauftritten und internationalen Pop-Gesten, der uns diesen Rausch aus Scheinwerferlicht, Beifallsstürmen, Autogrammjagden beschert hat. Die öffentliche Rede als Politikum, eine sozialromantische Gratwanderung zwischen säkularen und muslimischen Auditorien, der Pop-Gestus als beliebige Cross-Culture-Formel …
Und wenn schon. Wir leben im selben Jetzt, alle. Wir vergleichen und fragen, während wir die tektonischen Bewegungen rund um den Globus spüren, hautnah, so viel realer, als unsere Raster sie deuten können.
Als ich ankam, in Rendras Künstlerkommune im Süden von Jakarta, probte die Theatergruppe Baling-Baling unter Iwan Burnani gerade die indonesische Version von Albert Camus’ „Die Gerechten“. Das Stück stammt von 1949 und behandelt den Gewissenskonflikt eines Befreiungskämpfers: Darf er den Gouverneur umbringen, solange Frau und Tochter im selben Wagen sitzen? Der Revolutionär verzichtet, zielt zu einem ungünstigeren Zeitpunkt, wird gefasst und gehängt. Die Theatergruppe hat dem Stück den eindeutigen Titel „Teroris“ (Die Terroristen) gegeben. Dann eine mehrdeutige Inszenierung, die konsequent in der Schwebe bleibt zwischen Camus' moralischem Zweifel und aktuellen Anspielungen. Die Musik dazu hat der Popstar Sawung Jabo geschrieben.
Der Koffer! Der Koffer atmet. Tatsächlich, im Rhythmus eines Schläfers bläht sich der Deckel und sinkt wieder zusammen, ruhig, ohne Geräusch. Es dauert ein paar Sekunden, bevor das erste Kind die Bewegung bemerkt. Dann ein vielstimmiger Aufschrei und das wilde Trappeln flüchtender Füße.
Wie nah ihnen die Geister noch sind, mitten in der Großstadt. Und wie simpel der Mechanismus. Von Tisch zu Tisch ruft jemand mir zu, der Künstler, der gestern fehlte, sei jetzt in der Galerie zu finden. Ich schlendere über den Platz und frage Hardiman Radjab, wie er das gemacht hat. Mit dem Motor eines Tischventilators, sagt Hardiman. Batteriebetrieben. In seinem Lächeln fehlen ein paar Zähne.
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