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hörhilfeFreakstars 3000 lärmen jetzt auch auf CD

Mutters Schrauben

Wenn Ich mal ein Volk war, dann kann jeder eine Band sein. Die erste CD der Behindertenband Freakstars 3000 heißt „Mutter sucht Schrauben“. Fisch und Fahrrad, Mutti, Sucht und Schraube locker: „Meine Damen und Herren, ich wünsche Ihnen einen guten Erfolg!“ (Freakstar Horst Gelonnek). Den kann man brauchen. „Mutter sucht Schrauben“ mal so nebenher beim Abwasch durchhören klappt nicht. Die Platte verschmatzt zu leicht nervensägendem Hintergrundgekratze, dem entfernten Kombisound aus Schulhof, Presslufthammer, im Hinterhof laufenden Omasendern und zufällig vorbeiziehender Anarcho-Demo nicht unähnlich. Zumal es sich um eine merkwürdig leise Aufnahme handelt.

Die Freakstars, behauptet scherzhaft schunkelnd das Cover, sind bekannt aus „Funk und Fernsehen“. Theatergänger kennen ihre Stimmen und Physiognomien eher aus den Aktionen von Christoph Schlingensief, der seine Inszenierungen seit Jahren mit behinderten und psychisch kranken Darstellern bestückt. Beispielsweise mit dem jüngst verstorbenen Werner Brecht, seinerzeit erkrankt am Pickwick-Syndrom, einer heiklen Fettleibigkeit, die Brecht dekorativ auf der Bühne dösend kompensierte. Oder mit dem Charakterkopf Achim von Paczenskys, der bei Schlingensief schon glaubhaft als Heiner Müller oder Joseph Beuys auftrat und dem das Booklet kühl ein „intellektuelles Leistungsniveau vom Grad einer Debilität“ bescheinigt. 1998 konnten Freunde der Politkunstaktion „Chance 2000“ seiner Verlobung mit der scheu unters mittelgescheitelte Haar zurückgezogenen Helga Stöwhase beiwohnen. Auch Kerstin Grassmann, die Powerberlinerin mit dem saftigen Tresenkraftorgan, und Mario Garzaner aus Graz, charmanter Entertainer mit kindlicher Zahnlücke, gehören seit Jahren zum Inventar der Schlingensiefcrew.

Im Schlingensieftheater erfüllen die mehr oder minder Behinderten auf vollendete Weise das Anliegen, im Kunstrahmen Antikunst zu machen. Als bühnenautonome Zufallsgeneratoren, die aus dem Handgelenk Chaos, Langeweile, Peinlichkeit und Komik produzieren können, dürften sie für Schlingensief als Energie freisetzende Reibungsfläche mindestens ebenso wichtig sein wie echte Schauspieler, eingeladene Prominente und das Publikum. Auf der Parallelspur zu Film und Theater hat Schlingensief für „seine“ Behinderten in diesem Jahr ein eigenes Format erfunden: Für den Musikkanal Viva 2 drehte er einige Folgen der Doku-Soap-Show „Freakstars“, in der es – grob kopierter Handlungsfaden – um die Gründung einer Band geht. Dass der Soundtrack zur Sendung beim weltliteraturorientierten Hörverlag erschienen ist, versichert jedoch nachhaltig, dass die Freakstars eher im Kunst- als im Pop- oder Pädagogenkontext anzusiedeln sind.

Deshalb hört man jetzt zurückgelehnt die Freakstars, als wär’s ein Sample aus Ernst Jandl und John Zorn. Die eigentlichen Stars der CD sind Newcomer: der an Epilepsie leidende Heldentenor Michael Binder und das „jahrzehntelang in der Psychiatrie fehluntergebrachte“ Brüllwunder Horst Gelonneck. Binder ist für die oriental anmutenden Ohrwürmer zuständig; „Mars Gini Wini Mini“ schlägt jeden Muezzin, während „Du Awani, du Anita“ schön melancholisch in die Hüfte fährt. Gelonneck improvisiert lieber auf der Textebene, bevor er sich emphatisch einschreit: „Wir wollen ein neues Lied singen, und zwar ‚Wella Marina‘! Wella Marina, ich küsse disch zum letzten Tango! Wella Marina! Ich küsse disch! Zum! Letzten! Tango! WE! LA!! MA!!! RI!!!! NAAAAAAH!!!!! – Dange schön!“

Kerstin Grassmann röhrt Drafi Deutscher und Marlene Dietrich („Sag mir, wo die Blumen sind“, in der Mädchenstrophe wüst gurgelnde Schreie im Hintergrund) und ein schnarrendes Schubiduh zu „Röslein Rot“, interpretiert von Helga Stöwhase mit wacklig klagendem Alt. Mario Garzaner skandiert unermüdlich „Frieden“ für den Demosong, Christoph Schlingensief orgelt alle für „Ein Vogel wollte Hochzeit halten“ zusammen. Dezente Störung besorgen gedimmte Rhythmusmaschinen, zaghaft malträtierte E-Gitarren und Tamburins. Es ist grauenhaft, nur mit äußerster Konzentration zu ertragen und zu schätzen. Aber: angenehm kurz. Keiner der 19 Songs über zwei Minuten, dafür drei Bonus-Tracks. Einen guten Erfolg! EVA BEHRENDT

Freakstars 3000: „Mutter sucht Schrauben“. CD. Hörverlag, München 2002, 15,90 €

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