: Mädchen mit Streichhölzern
In beängstigender Weise liebenswürdig: Als neuer Künstlerischer Leiter beschert Peter Ruzicka den Salzburger Festspielen einen moderaten Kurs. In seiner ersten Saison präsentierte er Opernproduktionen, die nirgends wirklich anecken wollten
von FRIEDER REININGHAUS
Peter Ruzicka, Nachfolger von Gérard Mortier, stellte sich als neuer Künstlerischer Leiter der Salzburger Festspiele vor. Er will, wie alle seine Vorgänger, mit diesem Festival „alljährlich ein flammendes Plädoyer für die Oper halten, diese viel geschmähte, oftmals totgesagte Kunst“ (nach der aber doch fortdauernd so viele drängen). Selbstverständlich wird er die „Hausgötter“ weiter pflegen lassen. Bis zum Jubiläumsjahr 2006 sollen alle – zwei Dutzend! – Mozart-Opern neu produziert werden. Von Richard Strauss auch die in Vergessenheit geratenen späten Arbeiten. Dann wird auch Musikern, die vor siebzig Jahren unter das Verdikt der „Entartung“ fielen, verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet. Und selbstverständlich will Ruzicka nicht nur die konzertante Musik des 21. Jahrhunderts im Zentrum des Festspielbezirks verankern, sondern auch beim Musiktheater den Kurs des Neuen fortsetzen, den er als Intendant der Hamburger Staatsoper mit Dieter Schnebels „Vergänglichkeit“, Wolfgang Rihms „Eroberung von Mexico“ und Helmut Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“, aber auch mit den umstrittenen Videoproduktionen der Münchener Biennale einschlug. Doch brauchen Projekte dieser Art eine etwas längere Anlaufzeit.
So präsentierte der neue Chef, auch um sich ohne heftigen Anfeindungen des konservativen Salzburg erst einmal zu verankern, zu Beginn der ersten von ihm verantworteten Saison vor allem Produktionen, an denen (fast) nichts (mehr) als anstößig empfunden werden konnte. Alles handelte von Liebe und Güte. „Die Zauberflöte“ tut es mit einem freimaurerisch inspirierten Lern- und Prüfungsprogramm für junge Leute, die eben erst auf die Idee und den Geschmack der Liebe kommen, während Don Juan bekanntermaßen auf diesem Gebiet bereits einige Erfahrungen sammelte, bevor er auf die Bahnen Lorenzo da Pontes und der Mozart’schen Musik geriet. Freilich glaubte auch deren Don Giovanni, dass seine Aufmerksamkeit von Güte geleitet wird: konzentrierte er sich nämlich auf eine einzige, so beginge er notgedrungen an all den anderen Frauen Unrecht.
Gemessen an seinen Beethoven-, Nono- oder Donizetti-Inszenierungen in Stuttgart erwies sich Martin Kusejs Salzburger „Don Giovanni“ als sehr zahm, ja fast lahm. Mit einem der Handlung hinzugefügten stummen Chor von Erinnyen wurde auf die Ursprünge des Dramas verwiesen. Der dekorative große Bogen in weißer Sommerfrische-Architektur reichte von solchem Antikisieren bis zur feinen Unterwäsche eines Sponsors, die von den vielen Frauen in verschiedenen Varianten zur Geltung gebracht wurde. Nikolaus Harnoncourt und Martin Kusej arbeiteten zwei Jahre an dieser Produktion, dem Grundstock des neuen Zyklus. Streng nach Vorschrift die Tempi, betörend schön das Verschwinden der Musik im Pianissimo und scharf konturiert die Komtur-Gesten der Wiener Philharmoniker. Wie der Dirigent den Notentext, so nahm auch Kusej das Libretto ernst. Don Giovanni lädt am Ende zur „Cena“ im ewigen Schnee seines gleißend weißen Salons: ausgelaugt von einer allzu schwer lastenden kulturgeschichtlichen Tradition und seinen Koksexzessen wird er vom allzu lang gedemütigten Diener Leporello schnöde abgestochen. Solch moderate Entzauberung erregt heute nicht einmal schlichtere Gemüter. Zu deren Glück wurde Achim Freyers „Zauberflöte“ von 1997 in die Felsenreitschule zurückgeholt. Diese Entrückung des „Machwerks“ in eine Zirkusarena erweist sich auch in der museal konservierten Form als zugkräftig.
Zwischen die beiden Mozart-Dauerbrenner wurde „König Kandaules“ von Alexander Zemlinsky geschoben und damit auf einen dritten Aspekt von Liebe und Güte verwiesen: auf den des prahlerischen „Gönners“ seiner Freunde. Dieser mythische König glaubt, dass er in seinem maßlosen Glücksverlangen und Hang zur Selbstbespiegelung von altruistischen Motiven geleitet wird – ein tödlicher Irrtum und Anlass für psychoanalytisch geschärfte Musikdramatik. Dies Stück kann auch heute durchaus von Belang sein – in einer Zeit, in der offensichtlich bei den Machthabern der Mediokratie die öffentliche Vorführung der genossenen Luxusgüter ein Wesentliches des Glücks ausmacht: „Gestehe, dass ich glücklich bin!“, rufen die sich öffentlich liebenden TV-Stars, die in teure Anzüge gekleideten und frisch mit blonden Viertfrauen versehenen Politiker den Zaungästen des rauschenden Lebens zu.
Zemlinsky Arbeit ist ein Spätwerk – Musik aus dem Geist des Fin de siècle, zu großen Teilen entstanden kurz vor der Flucht in die USA Mitte der Dreißigerjahre. Es gehört zu den Verdiensten von Ruzickas Hamburger Intendanz, dass die von Antony Beaumont vervollständigte Partitur von Günter Krämer endlich realisiert wurde. Und nun noch einmal von Christine Mielitz, die den Hof des Kandaules als heiteren Transvestitenumzug inszenierte, dann aber solides theaterrealistisches Handwerk nach guter alter DDR-Machart zeigte – vor und neben Kritzelzeichnungen mit geschundenen und deformierten Menschen, die Alfred Hrdlicka zusammen mit einer massiv wirkenden Skulptur als Bühnenbebilderung beisteuerte. Die Produktion erwacht erst zum Leben, wenn das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin auf die Bühne beordert und zum Hauptakteur wird und Kent Nagano, als wäre eine Raubkatze Dompteur, das Triebleben der Klänge stimuliert. Zemlinskys Liebesmusik triumphiert über das Verderben.
Das Neue kam zuletzt: Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“, das in Paris und Stuttgart Furore machte – eingebettet in ein Lachenmann-Symposium von Mozarteum und Universität. In Salzburg rückte nun das Orchester ganz in den Vordergrund, auf die Bühne der Felsenreitschule und auf seitwärtige Emporen. Die auf zwei Leinwände projizierten Bilder üben völlige Zurückhaltung – feine Strichlineatur und Eisschollen kontrapunktieren gelegentlich das musikalische Geschehen, dem die fast ungeteilte Aufmerksamkeit galt. Komponierte Kälte, Erstarrung und das wie aus unergründlichen Tiefen aufbrechende Eruptive, die als Zitate nicht mehr erkennbaren Akkordblöcke aus Schlüsselwerken der neueren Musikgeschichte entfalten eine „Trümmerlandschaft“, die hochgradig konsistent wirkt. Sylvain Cambreling koordiniert mit sichtbarem Engagement eine Höchstleistung abendländischer Kulturtechniken, in die deren Kritik aufgegangen ist.
Helmut Lachenmann, der selbst die sprachartistische Leonardo-Passage las, hat sein Hauptwerk in denkbar reinster Form vorgeführt. Auf der Strecke geblieben ist dabei das, was vordem als Zündeln erschien. Das macht das Unternehmen in fast beängstigender Weise liebenswürdig. Und das passt sich eben auch in den neuen moderaten Kurs ein, den Peter Ruzicka für das Jahr 2002 einschlug. Die „große Verweigerung“ und der „entschiedene Einspruch“ sind im „Oberhaus Musikgeschichte“ angekommen.
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