albtraum alpen! von JAN ULLRICH:
Die Alpen: beeindruckende Bergriesen! Mahnendes Monument! Fingerzeig Gottes! Jedenfalls für den, der’s glaubt. Für mich sind die Gebirge lediglich altes, mehr oder weniger ungeschickt aufeinander gestapeltes Geröll: unbewegt, leblos, öde, der Ort, den Indianer aufsuchen, wenn sie sich zum Sterben bereit machen wollen.
„Da oben geht’s morgen rauf!“, höre ich meine Freundin sagen, kaum dass wir unseren Campingplatz in Südtirol erreicht haben, und sie zeigt auf einen Dreitausender hoch über uns. „Ich glaube nicht, dass das so eine gute Idee ist“, wende ich ein: „Adorno ist gestorben, nachdem er in die Berge gezogen ist.“ Und ich ergänze: „Das Gleiche gilt für Rilke und Hermann Hesse!“ Aber meine Freundin lässt sich nicht beeindrucken. „Auf dem Berg erhöht sich der Luftdruck, so dass unsere Herzkammern implodieren“, mahne ich jetzt dringlicher. „Feine Äderchen in unserem Gehirn werden platzen, wir werden schwachsinnig wie all die Bergbauern nach 150 Jahren Inzucht!“ Aber auch das beeindruckt meine Freundin nicht sonderlich: „Ich bin sicher, dass es dir gefallen wird“, sagt sie und gibt mir einen Kuss. Was weiß sie von mir, was ich noch nicht weiß?
Wenn man in der Ostsee baden gehen will, dann braucht man ein Handtuch und eine Badehose. Wenn man in den Bergen klettern will, dann benötigt man: Bergstiefel, Bergsteigersocken, Bergsteigerhosen (kurz und lang), Hemden, T-Shirts, Regen-, Wind- und Kälteschutzkleidung, Wanderstöcke, Sonnenbrille, Sonnenhut, Handschuhe, Stirnbänder, Steigeisen, Seile, Tourenproviant, eine Erste-Hilfe-Box, Leuchtkugelpistolen, ein Biwakzelt, ein umfangreiches Kartenset, eine Übersicht der wichtigsten Hubschrauberlandeplätze, Atemmasken und einen Rucksack, in dem man das alles verstaut. Es dauert daher etwas länger, bis wir am nächsten Tag loskommen, um unseren ersten Gipfel zu besteigen. Wir sind allerdings nicht besonders hoch gestiegen. Als wir uns erschöpft auf unseren „Gipfel“ fallen lassen, beobachten wir einen Mann, der nur mit Turnhose und Unterhemd bekleidet an uns vorbeischreitet. Dabei raucht er heftig und zieht einen kleinen Wagen mit Dosenbier hinter sich her.
Bergluft ist nicht gesund, sie ist lediglich ein Mittel, um auf natürlichem Wege high zu werden. In der Nacht ist mir im Schlaf Gene Simmons von der Rockgruppe Kiss erschienen, der mich aufforderte, am nächsten Tag bei einem Konzert seiner Band mitzuspielen. Ich habe dann völlig verbissen „I was made for loving you“ auf der Gitarre geübt. Als ich am nächsten Tag zum Konzert kam, stellte sich jedoch heraus, dass Kiss inzwischen eine Blaskapelle sind – und alles war umsonst.
Ein Freund von mir, der im vergangenen Jahr in der Schweiz war, behauptet steif und fest, dass es dort keine Mülleimer gibt. Deshalb sei er die ganze Zeit Auto gefahren, um seine Mülltüten loszuwerden. Schließlich vergrub er die Tüten irgendwo im Wald, ernährte sich nur noch von Beeren und Flechten, wusch sich im Bergbach und lebte bis zu seinem Auffinden als Eremit in den Schweizer Bergen.
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