: Begegnung mit Räuberbienen und Bilsenkraut
Im Hinterland der Mecklenburgischen Seenplatte liegt die preisgekrönte Lehm- und Backsteinstraße, ein Rundweg zu Naturparks, Museen, botanischen Gärten und ökologisch orientierten Unternehmen. Die Initiatoren und Dorfbewohner warten auf kulturinteressierte Seeurlauber
Ganzlin, Südmecklenburg: Ein verlassener Bahnhof mit milchigen Scheiben und rissiger Fassade, stillgelegte rostrote Bahngleise, modrige Waggons von Gräsern überwuchert. An dem leer stehenden Imbiss „Treffpunkt“ wird Kaffee für eine Mark angepriesen, und ein moosüberzogener Kaugummiautomat wartet noch immer auf den Einwurf von Fünf- und Zehn-Pfennig-Münzen. Entlang der Gleise stehen müde und in sich zusammengesackte Wellblechhütten.
Ganzlin liegt im Landkreis Parchim, 20 Kilometer vom Plauer See entfernt. Hier gibt es viele alte Menschen, viele junge sind fort gezogen, die geblieben sind, finden keine Arbeit. Hoffnungsträger sind hier die Touristen, und ein Lockmittel gibt es auch: „Lehm- und Backsteinstraße“, ein Ausdruck, buchstäblich dem lehmreichen mecklenburgischen Boden entnommen. Auf Initiative des Ganzliner Vereins FAL, Abkürzung für das pathetisch anmutende „Verein zur Förderung ökologisch ökonomisch angemessener Lebensverhältnisse“, werden seit 1990 Projekte und Unternehmen, die mit staatlicher Unterstützung in die Selbstständigkeit geführt wurden oder noch werden, als touristische Attraktion vermarktet.
Zuweilen mit Erfolg: Aus dem weltweit ausgeschriebenen Öko-Tourismuswettbewerb TODO! ging die „Lehm- und Backsteinstraße“ als bisher einziger deutscher Sieger hervor. „Einmalig in Deutschland“, urteilte die Jury.
In Retzow etwa steht ein ehemaliges Küsterhaus im neuen alten Glanz: Nun beheimatet es die Filzwerkstatt „Ülepüle“. Per Hand werden Produkte aus Schafswolle und Seide zu Schals und Stolen verarbeitet, die bis nach Japan und Saudi-Arabien verkauft werden. Das ist bei Preisen bis zu 160 Euro ein lukratives Geschäft. Drei Stunden lang wird der Filz in Bambusmatten hin und her gerollt (fachmännisch: gewalkt), anschließend getrocknet, mit Mustern versehen und schließlich übergebügelt. „Wir kommen mit der Produktion nicht hinterher“, sagt Werksleiterin Simone Scheede sichtlich stolz, „die 50 bis 60 Schals im Monat müssen wir im Zwei-Schicht-System herstellen.“ Zwischenbilanz: Drei Festangestellte, ein Auszubildender und weitere Teilzeitkräfte haben Arbeit gefunden.
Eine Station weiter findet sich das „Lieblingskind und Sorgenkind des FAL“, so der Geschäftsführer Klaus Hirrich: Der Wangeliner Garten beheimatet 900 verschiedene Pflanzenarten, aufgegliedert in Teilbereiche wie Duft-, Zauber- oder Liebesgarten. Dass mittels Bilsenkraut, Tollkirschen und Stechäpfeln Intrigen oft ein tödliches Ende nahmen, mag bekannt sein, doch, bitte sehr: Hier sind sie, beschau- und betastbar! Das Viagra des Mittelalters hieß Goldgarbe, und dass Eisenkraut eisenhart macht, wussten schon die Nibelungen zu berichten. Der Garten ist ein Erlebnis, dessen viele leibhaftige Anekdoten auch den abgebrühtesten Städter von der Natur begeistern – doch kämen sie nur! Bisher nämlich sind es nur 5.000 im Jahr, und so steht dem „ökologisch: topp“ ein gewaltiger ökonomischer Flopp gegenüber – 20.000 Besucher wären nötig, um die Kosten zu decken.
In der Ziegelei Benzin begibt sich der Besucher auf eine wahre Zeitreise zurück ins Ende des 19. Jahrhunderts: Der Hoffmann’sche Ringofen, in dem Lehm bei 1.000 Grad zu Backsteinen gebrannt wird, wurde dank des Einsatzes von bis zu 200 ABM-Kräften komplett und bis zur Funktionsfähigkeit saniert.
Neben dem Museum haben sie das Areal auch als Gewerbegebiet nutzbar gemacht. Eine Lehmbaufirma, ein Holzbetrieb und eine Gastronomie-Ausbildungsstätte haben sich bereits eingefunden.
Weiter geht es über das einzige Lehmmuseum Deutschlands in Gnevsdorf und das Naturschutzgebiet „Karower Meiler“ in ein Bienenmuseum nahe Plau am See. Es zählt mit Sicherheit zu den lebendigsten Ausstellungsorten Deutschlands – und ist nichts für schwache Nerven. Der rustikale Imker Reinhard Neumann ist Herr über 300 Bienenvölker – etwa 15 Millionen Bienen. Er zeigt auf einem brachliegenden Gelände die verschiedenen Lebensweisen von Bienen und die Arbeitsweise des Imkers.
Nichts für schwache Nerven ist der Weg in den Lagerraum, wo die honigreichen Waben auf Weiterverarbeitung warten. Beim Öffnen der Tür zum Lagerraum schon verdunkeln entgegenstürzende Bienen den Himmel. Das Summen zehntausender Kleinstaatler ist ohrenbetäubend. „Die tun nichts, das sind Räuberbienen“, schreit Neumann zum sichtlich verschreckten Besucher, und dann, plötzlich ernster: „Warum gucken Sie denn so grimmig?“ Tja, warum? Die Lehm- und Backsteinstraße schließlich gibt keinen Anlass zur Grimmigkeit. WOLF DEWITZ
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