: GEW ruft zum Protest
Harsche Kritik der Lehrergewerkschaft an den bildungspolitischen Beschlüssen der Koalition: Bremen würde zurück in die 50er Jahre gehen. Die GEW prognostiziert Schulkämpfe in allen Stadtteilen
„Schockiert“ ist Bremens Lehrergewerkschaft GEW von der bildungspolitischen Wende der SPD. Während die SPD-Bürgerschaftsfraktion gestern die Ergebnisse des Koalitionsausschusses eher gelassen und nur mit einigen kritischen Nachfragen zur Kenntnis nahm, kündigte die Lehrergewerkschaft Proteste gegen die „totale Revision des Bremischen Schulsystems“ an.
Es finde eine „Radikalkur“ statt, ein „bildungspolitischer Klimawechsel“, konstatierte Jürgen Burger von der GEW. Die Schulzentren, die die SPD seit den 70er Jahren geschaffen habe, sollten nun „zerschlagen“ werden. Gerade in den Schulzentren aber finde die Förderung der SchülerInnen statt, die von ihrem Elternhaus nicht die erforderliche Hilfe erwarten könnten.
Ein Beispiel: Nirgends in Bremen könnten so viele türkische Schüler in der Sekundarstufe I die Gymnasial-Klasse belegen wie am Schulzentrum Kornstraße. Nach den neuen Plänen soll das dortige „einzügige“ System aber gestrichen werden, weil es angeblich „zu teuer“ sei. Dass pädagogische Gründe für die Abschaffung solcher gymnasialer Zweige ins Feld geführt würden, sei schlicht „Unsinn“, meinte Burger.
Wenn die Bildungsbehörde die Beschlüsse in den Stadtteilen umsetzen wolle, dann werde es „über Jahre ständige neue Schulkämpfe“ geben, prognostizierte die Lehrergewerkschaft. Denn die Koalitionsbeschlüsse hätten „mit ernsthaften Konsequenzen aus Pisa nichts zu tun“. Die GEW fordert daher alle Betroffenen schon mal zum Protest auf.
Denn die Orientierungsstufe, deren Scheitern jetzt konstatiert werde, sei systematisch „kaputtgespart worden“, kritisiert Burger. Anfangs habe es kleine Gruppen gegeben, in denen Förderung möglich war. So kamen noch 1992 im Durchschnitt 13,9 Schüler auf eine Lehrkraft. Heute stünden die LehrerInnen vor jeweils 20 Schülern – an Kleingruppenarbeit ist da nicht mehr zu denken. Und sozialpädagogische Fachkräfte gebe es längst nicht mehr in der Grundschule.
Dabei sei es bei Einführung der Orientierungsstufe (OS) das erklärte Ziel gewesen, mittelfristig die Integration in den Klassenstufen 7 bis 10 fortzusetzen, damit die Kinder möglichst lange gemeinsam unterrichtet werden – genau wie im Pisa-Siegerland Finnland.
Die GEW lehnt vor diesem Hintergrund auch das Modell „6 Jahre Grundschule“ ab, auf das inzwischen einige SPD-Politiker setzen. Das habe es in Bremen in den 50er Jahren auch schon gegeben, aber gerade sieben Prozent der SchülerInnen seien damals aufs Gymnasium gekommen. Wenn Bremen jetzt nicht auf bayerische Abi-Quoten zurückfallen wolle, müsse die Durchlässigkeit und Fördermöglichkeit in den Klassen der Sekundarstufe I erhalten bleiben, so die GEW.
In Finnland, darauf verwies die GEW in diesem Zusammenhang auch, gebe es zwar mehr „Präsenz“ der Lehrer in den Schulen, aber die finnischen Lehrer hätten deutlich kleinere Lerngruppen und insbesondere in der Grundschule weniger Unterrichtsverpflichtung. Nur dann könnten Lehrer sich auch um die Förderung der Kinder kümmern. Über ein solches Modell sei die GEW „jederzeit verhandlungsbereit“. Dagegen bedeuteten die Beschlüsse, die zwischen Bernd Neumann (CDU) und Willi Lemke (SPD) ausgehandelt worden sind, „die Beendigung des Dialogs mit den Lehrern“. Auch der „runde Tisch“, an dem Experten mit Vertretern gesellschaftlicher Gruppen die Folgen der Pisa-Ergebnisse beraten, sei eine Alibi-Veranstaltung, die offenbar nicht ernst genommen werde.
Auch die Gesamtschülervertretung kritisierte die bildungspolitischen Beschlüsse der Koalition. „Die ungerechte Verteilung der Bildungschancen, abhängig von der sozialen Herkunft, war einer der zentralen Befunde der Pisa-Studie. Durch die Abschaffung der Orientierungsstufe und die Zerschlagung von Schulzentren hin zu Restschulen wird die Selektivität des Schulsystems jedoch erneut erhöht“, schreibt Schülervertreterin Lea Voigt.
Die Handelskammer begrüßt dagegen die neue Linie. Langjährige Forderungen wurden in die Tat umgesetzt, heißt es in deren Erklärung. Präses Dr. Plump betont: „Die Ergebnisse des Koalitionsausschusses sind ein großer Schritt zur Schaffung eines qualitätsvollen Bildungssystems in Bremen und sorgen damit auch für mehr Entwicklungschancen der Bremer Jugendlichen.“ Die Handelskammer lobt auch den Beschluss, die Orientierungsstufe in der fünften und sechsten Klasse abzuschaffen. Statt dessen sollte ab der vierten Klasse direkt der Wechsel in die weiterführende Schule erfolgen. Ebenso positiv bewertet sie das Abitur nach der zwölften Klasse. K.W.
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