Brücke über wildes Wasser

Pete Sampras, Altmeister mit scheinbar schwindenden Kräften, kehrt durch seinen US-Open-Sieg gegen Andre Agassi in die höchste Sphäre des Profitennis zurück und freut sich lausbübisch darüber

aus New York DORIS HENKEL

Als Art Garfunkel, die Haare wie immer wirr zu Berge stehend, vor dem großen Finale auf dem Centre Court eines der berühmtesten Lieder der Popgeschichte sang, warteten die Spieler in der Kabine. Bridge over troubled water – das war als gefühlvolle Botschaft an alle New Yorker gedacht, aber so, wie sich die Dinge entwickelten, war es ein Lied wie erdacht für Pete Sampras. Denn als der gut drei Stunden später mit einem Pokal in der Hand posierte, da war es, als habe er nicht nur den Gegner Andre Agassi, sondern auch das vom Wind des Zweifels aufgewühlte Meer besiegt. Mit seinem fünften Titel bei den US Open (6:3, 6:4, 5:7, 6:4), dem 14. bei einem Grand-Slam-Turnier, hat er allen eine Lektion erteilt, die meinten, er sei nicht mehr gut für einen großen Sieg. Ist nicht schwer zu verstehen, wenn er nun sagt: „Sich gegen Ablehnung durchzusetzen ist ein tolles Gefühl. Gut möglich, dass das meine größte Leistung überhaupt war.“

Von einen solchen Tag müssen sie beim amerikanischen Tennisverband USTA geträumt haben, als das Arthur-Ashe-Stadion in der Planung war. Die riesige Betonschüssel mit ihren 23.219 Sitzen zum ersten Mal seit der Einweihung vor fünf Jahren bei einem Männerfinale randvoll, stahlblauer Himmel, ein roter Teppich für Agassi und Sampras und keine Wünsche offen. Nach einer knappen halben Stunde hatte Sampras den ersten Satz gewonnen, nach einer Stunde den zweiten. Er schlug mit erbarmungsloser Präzision auf, servierte 33 Asse, spielte Volleys mit leichter Hand, und Agassi versuchte vergeblich, sich bemerkbar zu machen. Mit traumhafter Sicherheit bewegte sich Sampras in einer eigenen Sphäre; alle großen Spieler kennen dieses Gefühl, und wenn sie davon erzählen, leuchten ihre Augen.

Aber noch eindrucksvoller als die Dominanz der ersten beiden Sätze war, wie Sampras konterte, nachdem Agassi endlich doch mit verzweifeltem Bemühen den dritten gewonnen hatte. Jeder dachte, dass Sampras im fünften Spiel innerhalb einer Woche die Kraft ausgehen würde, dass Agassi nun mit frischer Moral die Initiative ergreifen würde, aber auch das stimmte nicht. Sampras überstand eine kritische Phase zu Beginn des vierten Satzes, und danach spielte er alles oder nichts. Riskierte, provozierte Fehler des Gegners und kassierte den Lohn.

Nach knapp drei Stunden schlug er zum letzten Mal auf; den ersten Matchball wehrte Agassi ab, beim zweiten rückte Sampras noch mal vor ans Netz – so wie schon mehr als hundert Mal zuvor in diesem Spiel. Den entscheidenden Volley schlug er im Sprung, halb mit dem Rücken zu Netz, und mit einem Seitenblick über die rechte Schulter verfolgte er den Flug. Man sah ihm an, was er in diesem Moment dachte: Den erwischt er nicht; das reicht. Ich hab’s tatsächlich wieder geschafft.

Als er im Juli 2000 in Wimbledon seinen 13. Grand-Slam-Titel gewann und damit in der Liste der Besten den Australier Roy Emerson übertraf, war er zu Tränen gerührt. Diesmal war er geradezu jugendlich und unbeschwert in seiner Freude, und erst, als er auf der Tribüne seine Frau Bridgette Wilson lang und innig in die Arme nahm, da spürte man, was ihn bewegte. Später sagte er, ohne ihre Hilfe, ohne ihren Zuspruch und ohne ihren Ansporn in den vergangenen Wochen hätte er all das nicht geschafft. Mit Bridgette über troubled water – so war das wohl.

Eine andere wichtige Rolle in der Geschichte hat Paul Annacone gespielt. Sampras hatte sich Ende 2001 nach fast sechs Jahren von seinem Coach getrennt, weil er das Gefühl hatte, die Partnerschaft sei in einer Sackgasse gelandet, aber nach der schockierenden Niederlage in Wimbledon Ende Juni hatte er Annacone gebeten, zurückzukommen. Der habe ihm, sagt er, in langen Gesprächen dabei geholfen, zur Ruhe zu kommen, und er habe ihn darin bestärkt, sich noch einmal eine Chance zu geben.

Er hat sie auf eine Art genutzt, die keine Frage offen lässt. Außer vielleicht der, ob es nach Titel Nummer 14 noch Nummer 15 geben kann. „Ich weiß“, sagt Sampras, „nach einem perfekten Drehbuch würde ich jetzt aufhören …“ Pause. Spannung. „Aber ich will den Wettkampf noch, ich will noch spielen.“ In den kommenden Wochen wird er darüber nachdenken, in welcher Form das geschehen soll, aber woran er denkt, das ist offensichtlich. „Ich hoffe, wenn ich zum letzten Mal in Wimbledon spiele, dass es auf dem Centre Court sein wird. Nicht auf Platz 17 – oder Platz 2.“ Sieht so aus, als habe ihn die Niederlage gegen George Bastl weniger erschüttert als die Tatsache, dass man ihn, den größten Sieger dieses Turniers, aus den heiligen Hallen in die Verbannung auf Platz 2 geschickt hatte.

Wie er damals hilflos auf dem Stuhl saß mit dem Liebesbrief seiner Frau in der Hand, das ist ein bleibendes Bild von Pete Sampras aus dem Jahr 2002. Auf dem anderen hält er in einem riesigen, voll besetzten Stadion einen Pokal in der Hand. Und freut sich, als sei es der erste.