: Kleiner Sieg im großen Krieg
Ein Jahr nach den Anschlägen vom 11. September sehen die Al-Qaida-Kämpfer sich als Opfer – und suchen neue Ziele. Denn nicht nur der Westen bedroht ihren „echten Islam“
Gegen die Trauer hilft Poesie. „Seid zuversichtlich, auch wenn die Hoffnungslosigkeit uns auflauert. Seid zuversichtlich, auch wenn die Verzweiflung uns von sich kosten lässt. Seid zuversichtlich, dass der Regen unsere Erde tränken und dass das Gesäte Frucht tragen wird. Seid zuversichtlich, ihr Leute, auch wenn ihr weint!“
In diesen Versen verleiht nicht etwa ein Überlebender der Terroranschläge vom 11. September 2001 seinen Gefühlen Ausdruck. In diesem selbst verfassten Gedicht beschreibt der Al-Qaida-Kader Sliman Abu Ghaith seine Gedanken anlässlich des ersten Jahrestages der Angriffe auf das World Trade Center und das Pentagon. Es ist Teil einer an die Gefangenen von Guantanamo Bay und die übrigen weltweit verstreuten Al-Qaida-Kämpfer gerichteten Rede, die Abu Ghaith, eine Art Sprecher der Terrororganisation, veröffentlicht hat und die im Internet nachzulesen ist.
Für westliche Ohren sind das befremdliche Töne. Wieso ergeht sich eine Terrororganisation, die den Jahrestag eines gigantischen Schlags gegen die westliche Welt feiern könnte, in derart selbstmitleidigen Versen? Die Antwort ist in dem Gedicht selbst greifbar: weil Ussama Bin Laden und seine Anhänger sich nicht als Täter, sondern in erster Linie als Opfer sehen. Die Anschläge auf New York und Washington sind in ihrer Interpretation deshalb auch nicht jene Kriegserklärung, die US-Präsident Bush darin erkannte, sondern stehen für eine einzelne siegreiche Schlacht in einem blutigen Krieg, der ihnen, den Verteidigern und Rächern des wahren Islam, schon vor Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten aufgezwungen wurde. Aus diesem Grund spricht Abu Ghaith auch vom Kampf gegen die „amerikanischen Kreuzzügler“, was keinesfalls auf mangelnde Geschichtskenntnisse zurückzuführen ist.
Der zentrale Aspekt der Welt- und Selbstsicht der al-Qaida wird vom Westen bis heute kaum wahrgenommen. „Why do they hate us?“, fragten sich US-Intellektuelle verstört nach dem 11. September, als man anstelle einer Kriegserklärung oder überhaupt irgendeiner Erläuterung seiner Motive im Gepäck des Todespiloten Mohammed Atta eine an die Terroristen selbst gerichtete Anleitung für das korrekte Verhalten vor und während des Anschlags fand und als es statt geifernder, irrer Hasstiraden gegen den Westen Bin-Laden-Videos zu sehen gab, auf denen der Al-Qaida-Führer minutenlang seelenruhig altarabische Lyrik zitierte. Dem Westen war nicht bewusst, dass es für al-Qaida ganz einfach nichts zu erklären gab. „Why do they hate us?“ – Diese Frage stellten sich schließlich auch die Dschihadisten.
Nichts, was seit dem 11. September aus dem Umfeld Bin Ladens an die Öffentlichkeit drang, war deshalb überhaupt auch nur an den Westen gerichtet. Der Schluss, den der Westen daraus mittlerweile gezogen zu haben scheint, besagt, dass die al-Qaida eine „fantasy ideology“, wie die Washington Post formulierte, haben müsse, der jede innere Logik fehlt, und dass al-Qaida den Westen bekämpft, weil der Westen eben ist, wie er ist: frei, unislamisch, anders.
Aber auch das ist ein Missverständnis. Denn die Ideologie des Dschihad, wie Ussama Bin Laden sie vertritt, ist in Wahrheit keinesfalls allein gegen den Westen gerichtet. Al-Qaida betreibt zwar eine Art ideologischen Gemischtwarenladen, in dem für jeden etwas dabei ist. Sie verteufelt das Judentum, den Kapitalismus, die Heuchelei verwestlichter Herrscher in der islamischen Welt, den Kommunismus, den „falschen“ Islam, den Westen und den Zionismus gleichermaßen.
Doch ganz so beliebig wie diese Liste von Feinden in westlichen Augen – und übrigens auch in den Augen der großen Mehrheit der Muslime weltweit –scheint, ist sie nicht. Für die Dschihadisten lassen sich all diese Feindbilder unter zwei heilsgeschichtliche Oberbegriffe, den der Dschahilija und den des Dschihad gegen die Ungläubigen, zusammenfassen. Die Dschahilija bezeichnet in der islamischen Theologie die Zeit vor der Offenbarung des Propheten Mohammed, mithin eine historische Epoche der Unwissenheit und Barbarei, die durch die Verkündung des Islam eigentlich beendet wurde. In der fundamentalistischen Theologie und auch bei anderen Gruppierungen als al-Qaida löst sich die Dschahilija aus ihrem historischen Kontext. Sie wird zum Gegenbegriff und Feindbild des „echten Islam“, wie man selbst ihn interpretiert. Vor allem weltliche Konzepte wie der Kapitalismus, der Kommunismus oder der Kolonialismus werden als Rückfall in die Dschahilija verstanden.
Was den Dschihad gegen die Ungläubigen angeht, so umfasst dieser nach Vorstellung extremer Islamisten und im scharfen Gegensatz zur orthodoxen Theologie auch den Kampf gegen Juden und Christen. Sogar andere Muslime können, wenn sie sich zu Ungläubigen erklären, zu Zielen werden. Al-Qaida lehnt nicht nur die USA oder den Westen ab, sondern akzeptiert nach dem Sturz der Taliban auch kein einziges bestehendes islamisches Regime als gottgefällig.
Das verdeutlichen auch die Al-Qaida-Anschläge jenseits dessen vom 11. September 2001: Die Anschläge auf die US-Botschaften in Tansania und Daressalam richteten sich zu gleichen Teilen gegen die USA wie gegen die Saudis, die ungläubigen Truppen Zutritt zum heiligen Gebiet von Mekka und Medina gewährt hatten. Der Anschlag auf die Synagoge von Djerba richtete sich zugleich gegen westliche Touristen, gegen die jüdische Gemeinde und gegen den Rest religiöser Toleranz in Tunesien, wo Juden nicht gleich zwangsislamisiert oder zur Auswanderung gezwungen werden. Auch der vereitelte Anschlag gegen die Straßburger Synagoge hatte mehr als eine antiwestliche Dimension. Ganz ohne innere, eigene Logik ist das Vorgehen der al-Qaida also nicht.
Laut Berichten arabischer Zeitungen hat der Iran in den vergangenen Wochen um die 400 Bin-Laden-Jünger in ihr Heimatland Saudi-Arabien ausgewiesen. Wer weiß, was sie im Iran ausheckten. In Saudi-Arabien jedenfalls haben sie mit der Öl-saturierten, dekadenten Königsfamilie ein aus ihrer Sicht ebenso bekämpfenswertes Ziel wie die USA direkt vor der eigenen Nase. Bereits 1979 gelang es einer Gruppe von 300 islamistischen Extremisten, die große Moschee von Mekka, das spirituelle Zentrum der islamischen Welt, mehrere Tage lang besetzt zu halten, bevor die saudische Nationalgarde der Besetzung ein blutiges Ende bereitete. Wer auch immer es wäre, dem es heute gelänge, die in der gesamten islamischen Welt verhasste saudische Monarchie zu demütigen oder gar zu stürzen, dem wäre ein gewaltiger Zuwachs an Sympathien in der internationalen Islamistenszene sicher.
„Seid zuversichtlich, dass der Regen unsere Erde tränken und dass das Gesäte Frucht tragen wird“ – gut möglich, dass Sliman Abu Ghaith bei diesem Vers auch an ein saudisches Szenario gedacht hat. Unvorstellbar, dass ein paar Leute diese Militärmonarchie zu Fall bringen? Das war der Einsturz des World Trade Centers auch. YASSIN MUSHARBASH
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