Der Märtyrer – Popstar der islamischen Welt

Selbstmordattentäter machen uns Angst. Denn sie zeigen: Es gibt Dinge, die wichtiger sind als das Leben. Unser Leben. Märtyrer stammen jedoch auch aus einer anderen Zeit. Aus einer Zeit, in der man sich gegen einen einzigen allmächtigen Gegner wehren wollte. Ist diese Zeit nun zurückgekehrt?

von CHRISTOPH REUTER

Was ist am 11. September eigentlich geschehen? Sieht man es, passend zur Zeit, unter rein militärischen Gesichtspunkten, war es der mit Tapeziermessern erstrittene Sieg über die USA, deren allgewaltige Militärmaschinerie sie schon nicht mehr als Super-, sondern als Hypermacht auftreten lässt. Dennoch, um vier Passagiermaschinen in zielgenaue Marschflugkörper zu verwandeln, genügten an Waffen ein paar Messer.

Was allerdings entscheidend war und bis heute unterschätzt wird, war die Bereitschaft der 19 Attentäter, freiwillig mit in den Tod zu fliegen, den sie tausenden anderen bereiteten. Denn dies ist ihre eigentliche Waffe gewesen: die absolute Bereitschaft zum Opfermord, verbunden mit monate-, jahrelangen Vorbereitungen, vollkommen losgelöst von äußerlichen Umständen des Elends oder Krieges.

Die 19 waren zwar Muslime, aber alles Männer aus behüteten, begüterten Verhältnissen, die weder militärische Besatzung noch Erniedrigung erfahren, ja nicht einmal in Israel, Tschetschenien, Kaschmir gelebt hatten – sondern ausgerechnet in Deutschland und den USA. All ihr Mord- und Märtyrerwille entsprang keinen realen Erfahrungen und Verhältnissen, sondern allein ihren Wahnbildern. Ihrer Annahme, es seit gottgefällig, Flugzeuge voller Zivilisten in Hochhäuser voller Zivilisten zu steuern.

Opferwillige Täter

So wie 19 Jahre zuvor die ersten spektakulären Selbstmordanschläge der Hisbollah die Welt erschütterten, hat mit al-Qaida dieser Modus Operandi des Opfermordes eine neue Stufe erreicht: Seit diese Anschläge, deren integraler Bestandteil der Tod des Attentäters ist, damals ihren Anfang nahmen, als zehntausende iranische Jugendliche in die irakischen Minen- und Maschinengewehrstellungen rannten und die Hisbollah im Libanon den Selbstmordanschlag mittels Sprengstoff regelrecht „erfand“, hat er sich wie eine Epidemie verbreitet: 1987 unter Tamilen in Sri Lanka, 1993 unter Palästinensern, später bei der PKK in der Türkei, „Dschihadis“ in Tschetschenien oder Kaschmir.

Immer gab es bei diesen Gruppen einen klaren Konflikt: Sie standen im Kampf gegen eine militärische Besatzungsmacht, im Krieg für Unabhängigkeit. Mit al-Qaida hat eine Sekte es geschafft, opferwillige Täter von beliebiger – muslimischer – Herkunft zu finden zum Mord an beliebigen Opfern. Schierster Terror, grenzenlos, aber auch ortlos, ziellos, bekenntnislos. Aber woher stammt das Selbstmordattentat überhaupt? Wieso hat es in den letzten zwanzig Jahren eine solche Konjunktur erlebt? Wieso funktioniert es nach Regeln, die in manchem fast konträr zu anderen Formen des Terrors oder Kampfes verlaufen? Nach dem 11. September haben Journalisten, Politiker und Psychologen Bilder von Dämonen entworfen: Selbstmordattentäter, hieß es, seien Fanatiker, Verrückte. Sie würden daran glauben, ins Paradies aufzufahren, denn dort warteten ja bereits 72 Jungfrauen auf jeden, mandeläugig und wohlgeformt.

Doch selbst wenn diese Erklärung zuträfe: Warum tauchen diese „Verrückten“ gerade jetzt auf? Warum haben Hamas und Hisbollah Selbstmordbomber eingesetzt, aber die IRA nicht, ebenso wenig die PLO oder die muslimischen Kämpfer in Bosnien und im Kosovo? Wieso haben mit der säkularen PKK in der Türkei oder den mehrheitlich hinduistischen Separatisten der Tamil Tigers Gruppen zum Mittel des Opfermordes gegriffen, die mit dem Islam nichts zu tun haben? Und wenn muslimische Attentäter sich in die Luft jagen, um der 72 Jungfrauen teilhaftig zu werden, warum tun es dann auch Frauen, Säkulare und Sexualphobiker? Israelische wie palästinensische Psychologen, die sich eingehender mit den Tätern beschäftigt haben, kommen zu einem anderen Grund: der ultimativen Verwandlung von Ohnmacht, sei sie am eigenen Leib erfahren oder eingebildet, in einen letzten Moment der Allmacht.

Das Selbstmordattentat, es trifft uns mit Macht, tief, erinnert uns an etwas, dessen Existenz wir längst vergessen hatten: dass es Menschen gibt, denen ihr Kampf, wofür auch immer, wichtiger ist als ihr Leben. Es rührt unsere Angst. Es raubt uns den Boden unter den Füßen. Denn nichts ist auszurichten gegen Täter, die nicht bloß entschlossen sind zu töten, sondern die selbst sterben wollen dabei. Alle Logik der Macht setzen sie außer Kraft, denn wer nicht überleben will, ist auch mit nichts zu bedrohen.

Fürchtet euch!

Doch auf dieser stillen, für selbstverständlich gehaltenen Übereinstimmung des unbedingten Lebenswillens ruht unsere Vorstellung von Sicherheit, unsere zivilisatorische Ordnung insgesamt. Wenden sich aber Menschen gegen den Staat und setzen dabei sein Drohpotenzial außer Kraft, ist er, aller Stärke zum Trotz, machtlos. Er hat, über den Tod hinaus, nichts aufzubieten. Märtyrer sind von unschätzbarem Propagandawert. Sie zeigen den Ihren: Folgt unserem Beispiel! Die Sache ist wichtiger als unser Leben und also auch als euer Leben. Und sie zeigen den anderen: Fürchtet euch! Denn wir fürchten die Unterwerfung mehr als den Tod und also fürchten wir euch nicht.

So wichtig wie das Töten ist das Sterben dabei. Das zeigte jener 28-jährige Palästinenser, der, wie ein ahnungsloses Menetekel des Kommenden, am 12. August 2001 ausgerechnet das „Wallstreet Café“ in Haifa betrat: der genügend Sprengstoff um den Bauch trug, ein Blutbad anzurichten, als er zur Kellnerin an den Tresen ging. Der aber dann sein T-Shirt hochzog und sie fragte, ob sie wisse, was das sei. Und der dann wartete, als alle schrien, Stühle in seine Richtung warfen und ins Freie stürzten. Bis er sich in der Einsamkeit des leeren Cafés zu einem zerfetzten Torso sprengte, dessen Kopf auf einem Tisch zu liegen kam.

Was aussah wie sein Scheitern, war ein auf die Spitze getriebener Hintersinn: Seht her, lautete die Botschaft: Ihr habt Angst. Und ihr habt sie zu Recht. Denn selbst in Israel, allen Überwachungsmaßnahmen, allen palästinensischen Kollaborateuren und Spitzeln, allen nicht eben rechtsstaatlichen Verhörmethoden zum Trotz, gelingt es nicht, die selbst ernannten Märtyrer aufzuhalten.

Wie wenig sie sich mit konventionellen militärischen Mitteln des Tötens abschrecken lassen, zeigen Israels zahllose Morde an Hisbollah-, Hamas- und Dschihad-Führern: Der Versuch, den Terror zu besiegen, indem man seine Protagonisten tötet, hat immer neue Terrorwellen ausgelöst. Wenn eine ganze Gesellschaft so verzweifelt oder so beseelt ist vom Aufstand gegen eine Besatzungsmacht, dass der Kampf mehr zählt als das eigene Leben, verstärkt die gezielte Liquidierung ihrer Führer diese Entschlossenheit nur.

Glaube als Legitimation

Wer sich der Logik der Macht versagt, wird auch durch deren Exzesse nicht zu bremsen sein. Der Glaube ist dabei nicht Grund, sondern nur nachträglich konstruierte Legitimation für die Tat; das zeigen schon die Rechtfertigungsbemühungen islamischer Gelehrter, den Widerspruch zum im Islam wie im Christentum verankerten Selbstmordtabu mittels theologischer Verdrehungen und Fälschungen zu überbrücken.

Was wir erleben, ist die faszinierende Wiederauferstehung einer vergessenen, vergangen geglaubten historischen Figur: des Märtyrers. Eine Figur aus den Epochen der Aussichtslosigkeit, als es nicht zwei polare Supermächte gab, sondern als man antrat gegen allmächtige Gegner. Die frühen Jahrhunderte des Christentums wimmelten von Märtyrern, ebenso der frühe Islam, noch heute heißen die wichtigsten Plätze etwa in Beirut oder Damaskus „Platz der Märtyrer“.

Mit der Asymmetrie unserer Welt, die nur noch jene eine „Hypermacht“ kennt, ist die vollkommene Unterlegenheit zurückgekehrt. Doch der alte Mythos vom Märtyrer hat sich verbunden mit Methoden, die es früher nicht gab. Aus dem Märtyrer, der als Opfer Verpflichtung für die Nachwelt repräsentierte, ist der „Sich-selbst-Märtyrernde“ geworden, für den es im Arabischen sogar ein Wort gibt: den Istischhadi. Und so wenig Hamas und al-Qaida gemein haben: So lange Scharons Politik der Gewalt die Istischhadis zu den politischen Popstars der gesamten islamischen Welt macht, wird sich al-Qaida nicht über Nachwuchssorgen beklagen können. Wenn dazu noch die USA denselben Weg mit einem Krieg gegen den Irak beschreiten, kann sich Bin Laden, so noch am Leben, eigentlich zufrieden an seine Höhlenwand lehnen: Dann laufen die Dinge nach Plan. Seinem Plan.

Der „Stern“-Redakteur Christoph Reuter ist Autor des Buches „Mein Leben als Waffe. Selbstmordattentäter. Pychogramm eines Phänomens“ (Bertelsmann, 23,90 Euro).