Bilder vom Einsturz der Welt

Über die Liveschaltungen der Fernsehkanäle stellten die Attentäter vom 11. September eine Verbindung zu den Hirnen der Zuschauer auf der ganzen Welt her. Der Ort des Anschlags war nicht allein New York – er geschah in unseren Wohnzimmern!

von KLAUS THEWELEIT

Wenn Bilder nur Abbilder wären, mediale Wiedergaben einer real existierenden Dingwelt und nicht eine Realität für sich selbst, hätte die Welt am Fernseher die zusammenbrechenden Türme nicht wirklich gesehen, sondern nur als Abbildung eines in New York geschehenen Realen. Zutreffend ist etwas anderes: Die Augenzeugen des Crashs der Türme in New York haben etwas anderes gesehen als die Menschen der Welt an den Fernsehschirmen, aber beide etwas vollkommen Reales. Das Mitgefühl, das fast alle Staatschefs der Welt spontan den Amerikanern, den Opfern wie der Regierung, aussprachen, war eine Reaktion auf die Fernsehbilder. Es war deren kühl kalkulierte Eindringlichkeit, die überlegte und überlegene „Inszenierung“ des Unvorstellbaren, die etwa Norman Mailer dazu brachte, dem Anschlag außer Monstrosität „Brillanz“ zu attestieren; und die Karlheinz Stockhausen dazu verleitete, die Bilder vom Anflug und Einschlag der Flugzeuge gleich ganz als Kunstwerke aufzufassen und als solche zu bewundern.

Die Reaktion der Staatschefs, die Reaktion Fidel Castros, vor dem Fernseher stehend – denn man setzt sich nicht beim ersten Anblick des Ungeheuren –, wie auch die Reaktionen aller „normalen“ Fernsehzuschauer hatten genau den gleichen Grund: Entsetzen und ungläubige Bewunderung für die bildliche Souveränität dieses Terrorakts, der in seiner medialen Hyperkonstruiertheit als Nie-Gesehenes in die Augen fuhr, ins Hirn sich einbrannte und ins Herz: im gleichzeitigen schneidenden Wissen, dass dort soeben tausende Menschen in der Schmelzhitze der Kerosinexplosion verglüht waren, eingeäschert.

Kommentatoren, die erschreckt die Filme auflisteten, in denen sie Ähnliches oder sogar Gleiches bereits gesehen hatten, wussten meist nicht und sind bis heute eher ratlos, was diese Listen eigentlich sagen oder bedeuten. Was vielmehr alle sahen, wo sie sich auch befanden, waren Bilder, die sie noch nie gesehen hatten, und die alle überforderten. Im TV waren es Bilder höchst intensiver Realität. Sie warfen die Aufnahmeinstanzen des Hirns über den Haufen, wie sie auch die politischen Lager für den Moment auflösten. Nicht nur die Verbündeten, sondern alle Staatschefs sprachen ihr Mitgefühl aus – bis auf Saddam Hussein, der seine Gründe hat.

Die Menschen, die in New York die Einschläge und den Einsturz der Türme von der Straße aus sahen, sahen im Vergleich dazu etwas ganz anderes, sie hörten und rochen auch etwas ganz anderes: Feuer, Rauch, Lärm, Schreie, Tränen, unentscheidbar, ob es sich um den Einsturz der Türme handelte oder den Einsturz der Welt. Sie sahen nicht die klaren Bilder der Kameras „über den Dächern von New York“, die brennenden Türme in der Silhouette Manhattans, sie wussten zu einem großen Teil nicht einmal, was passiert war.

Keineswegs sahen die Augenzeugen in New York die Realität des Einsturzes, sie sahen eine andere Realität als die an den Schirmen, und sie reagierten anders auf sie. Und keineswegs löscht oder übertrumpft diese Realität die Realität des Einschlags in Augen und Hirne der Menschen am Fernseher: Das belegen gerade die spontanen Sätze: „Nichts wird mehr sein, wie es vorher war“, und „Hiermit hat das 21. Jahrhundert begonnen“; sie sind klare Resultate des Fernsehbilds, formuliert und geteilt von einer Mehrheit der TV-Seher. Eine bestimmte Qualität des Fernsehbildes muss sie erzeugt haben; sie entstanden am Fernseher und führten zu der von vielen Zuschauern beschriebenen „Sucht“, die Bilder vom Einschlag und Einsturz wieder und wieder anzusehen. Als Schwellenbilder zum Eintritt in das neue Jahrtausend.

Was alles einbrach. Ein älterer Freund, jahrelang mit Alkoholproblemen befasst und nun trocken, berichtet, er habe im Trockenwerden mühsam ein inneres Gerüst aufgerichtet, eine Art Korsett, an dem sich sein neues Leben stabilisiert. Es sei aber sehr labil; man trinkt zwanzig Jahre keinen Tropfen und arbeitet doch ständig an der Sucht. Und schützt das Gerüst und baut es aus in dem, was man täglich sagt, denkt und tut. Beim Crash des zweiten Turms des World Trade Center sei dies Gerüst in ihm zusammengebrochen, sagt er, lautlos und in großer Staubwolke; er habe das Gefühl gehabt, die Welt verliere ihr Gerüst und breche zusammen.

Ähnlich persönlich getroffen habe ich eine ganze Reihe von Leuten erlebt, Jugendliche, denen die World-Trade-Center-Türme als Wahrzeichen eigener hochfliegender Amerikaträume tiefer in die eigene Psyche gegraben sind als die Freiheitsstatue. Leute jeden Alters und Geschlechts konnten sich ähnlich äußern, ohne dass deswegen ihre politische Urteilskraft ausgesetzt hätte; ohne dass die besonderen Arten ihres Getroffenseins ihr Mitgefühl mit den Opfern behindert oder sie sich gar mit diesen verwechselt hätten. Wir funktionieren längst auf den Schienen verschiedener Parallelrealitäten, zwischen denen wir hin- und hergehen oder auch „schalten“ können. Unsere psychischen Apparate und unsere Denkapparate arbeiten längst schon in solcher Multiplität. Keine dieser Realitäten ist prinzipiell realer oder auch irrealer als eine andere. Sie existieren allerdings in Graden verschiedener Intensität; manche sind bedeutender, andere unwichtiger, das differiert von Person zu Person. Was man im Kino sah, liegt in völlig verschiedener Gewichtung vor in den Einzelnen; es ist aber nicht irrealer oder gar „illusionärer“ als das, was in New York passierte. Oder als das, was in Attas, des Attentäters, Hamburger Studentenzimmer passierte, oder als das, was die Einzelnen, Fidel Castro, Sie, ich oder der Freund mit dem inneren Gerüst am Fernseher sahen.

Der Fernseher wirkte wie ein Bildverstärker in diesem Fall. Man begriff, dass die Durchschlagskraft der Fernsehbilder vom Crash nicht zufällig war, sondern eine absichtsvoll produzierte. Man „begriff“ sofort, wie Absichten und Ziele des Anschlags ihren perfekten bildlichen Ausdruck gesucht und gefunden hatten; ein Umstand, der viele von „Inszenierung“ sprechen ließ, von einem quasi-„artistischen“ Ereignis. Man „begriff“: Die Flugzeuge waren zu unterschiedlichen Zeitpunkten gekapert worden, um zeitversetzt in die Türme zu rasen. Wissend, die Kameras aller Stationen und aller Privatmenschen auf den Dächern und in höheren Stockwerken würden auf das Unglück in Turm eins gerichtet sein, wenn der zweite Jumbo in Turm zwei raste: den Vorgang als geplanten Mordanschlag enthüllend. Ungewollt live zugeschaltet zur spektakulär ausgestellten Ermordung tausender. Fieser und effektiver ist man noch nie als TV-Zuschauer zum Teilnehmer eines medialen Mordtheaters gemacht worden. Gleichzeitig informiert über die Parallelaktion am Pentagon; und teilinformiert über das vierte Flugzeug, das abgestürzte, dessen potenzielle Ziele sich jeder am TV gleich selbst ausmalte: Weißes Haus oder AKW Harrisburgh. Effektiver haben noch nie Terroristen mit „unseren Köpfen“ gedacht; die TV-Zuschauer gezwungen, selbst die Ziele des Terrors anzuvisieren, die sie gewählt hätten, wären sie an Stelle der Terroristen. Der größte gewählte Schrecken, Harrisburgh, erwies sich später als die zutreffendste „Wahl“. Harrisburgh hätte es sein sollen. Womit die Inszenatoren des Attentats vom 11. September auch noch den Schrecken von Tschernobyl eingebaut hätten; ein Gesamtattentat im Götterdämmerungssinn. Zudem unüberbietbar im Symbolischen; es sei denn, die Amerikaner bombardierten die Kaaba in Mekka. Es bleibt einem gar nichts übrig, als auch diese drei „Ebenen“, die des Massakers an „Stellvertretenden“, die des religiösen Selbstopfers und die der Abrasur eines Großsymbols, als gleich real und gleich wirksam zu betrachten.

Die Reaktion der Welt auf diese im Fernsehbild höchst vereinten und exakt sichtbar gemachten verschiedenen Seiten des Anschlags hat dies auch genau gezeigt. Es wurde begriffen, dass dies der seltene (und vielleicht erstmalige) Moment war, in dem die verschiedenen Realitätssegmente eines weltbewegenden Ereignisses erstmals am besten in einem Fernsehbild zu sehen waren. Verdichteter und genauer als am Ort des Geschehens selbst. Oder, noch genauer: Der Ort des Geschehens war nicht allein New York und die Türme des World Trade Centers, Washington und das Pentagon, sondern der TV-Bildschirm, mit dem wir zusammengekoppelt waren durch die Liveschaltung, die die Attentäter durch ihr Timing und die ganze Anlage dieses Großattentats mit uns, den Hirnen der Fernsehzuschauer der Welt hergestellt hatten. Dieses Attentat geschah bei uns zu Hause, unabweisbar, und die sensibleren Leute reagierten darauf. Nicht nur mit dem Gedanken, dass dies das Ende der Unverletzlichkeitsfantasie sei, mit der Amerika und die westliche Welt sich seit Jahrzehnten gegen das zunehmend bedrohliche Drittweltwesen und andere Aliens immunisieren; sondern in der Gewissheit, selbst getroffen worden zu sein in den eigenen, persönlichen Sicherungs-, Abwehr- und Immunsystemen verschiedenster Art. Die sonstige Gewissheit, vom laufenden „Weltprozess“ letztendlich doch nicht substanziell betroffen zu sein, verglühte mit den Ermordeten des Attentats von New York. Denn auch körperlich hätte man selbst an Stelle eines der Toten sein können; eine Frage des Zufalls, wann man selbst auf den Türmen stand. Das touristische Innenleben der Westweltstaaten rückte auf die Liste möglicher terroristischer Ziele; das trifft tief, denn nur eines sind wir wirklich alle: Weltreisende.

Zu Recht ist bemerkt worden, dass ein Anschlag aufs Pentagon allein diese Folge niemals gehabt hätte. Er wäre verbucht worden als kriegerischer Akt eines besonderen frechen Kalibers; niemand aber hätte „das 21. Jahrhundert“ damit wirklich anfangen sehen. Dies blieb den Fernsehbildern vom WTC-Crash vorbehalten, den Bildern, nicht dem Einschlag selbst.

Was die Einzelnen und die westliche Öffentlichkeit so nachweislich stark getroffen hat, war nicht der Vorfall an den Hochhäusern, es war der Vorfall unserer Koppelung mit dem TV-Schirm in einer mörderischen Liveschaltung, die uns die Basis unserer politischen wie persönlichen Immunsysteme entzog; die Schaltung, die uns zu Teilnehmern dieser Großinszenierung eines Mordspektakels machte; die hoch aufgeladene Realität einer TV-Schaltung, die wir sonst, in läppischen Big-Brother-Shows als Reality TV unter Kontrolle zu haben glauben, in leichtfertiger Immunisierungsgewissheit.

Die ungekürzte Fassung dieses Textes erscheint am 17. 9. in Klaus Theweleits neuem Buch „Der Knall – 11. September, das Verschwinden der Realität und ein Kriegsmodell“ (Verlag Stroemfeld/Roter Stern)