: Das Faxgerät
1. Preis: Die Kunst, Urlaub zu machen
von FRAUKJE BECKER
Das monotone Pfeifen des Faxgeräts dringt wie ein heißer Draht in mein linkes Ohr und bohrt sich grell schreiend durch mein Gehirn. Blind wie ein Küken tapse ich aus dem Bett zum Faxgerät. Ich habe Urlaub und ziehe den Stecker. Und, weil es sowieso gerade klingelt, auch aus dem Festnetztelefon, und weil es so viel Spaß macht, auch noch aus der kleinen Lampe am Flurspiegel. Steckerrausziehen ist fantastisch. Großes Gefühl von Macht und Überlegenheit.
Ich mache mich also auf die Reise, gehe quasi auf Safari in meiner eigenen Wohnung. Schleiche von Zimmer zu Zimmer und töte Elektrogeräte durch ein gekonntes Rausziehen der Stecker. Dabei stelle ich leicht irritiert fest, dass mir jedes einzelne Zimmer fremd ist, mich Möbel oder Accessoires erschrecken und die Gerüche verwirren. Ich verbringe vor lauter Arbeit definitiv zu wenig Zeit in und mit meiner Wohnung. Jedes Zimmer ist, als ob ich in ein anderes Land reise. Kein Zuhause. Urlaub sei Dank, ich drehe durch!
Ich tapse zurück in mein Bett. Ich will schlafen bis mittags, dann frühstücken auf der Couch und Talkshows gucken und wieder schlafen und essen und einkaufen, schlafen und wieder fernsehen und nicht an die Tür gehen und nicht an irgendein Telefon. Will jetzt schlafen, damit sich dieses Schlechte-Gewissen-Gefühl nicht weiter ausbreiten kann, das sich jetzt gerade schon klumpig in meinem Bauch zusammenrollt. Ich habe Urlaub! Verdienten Urlaub! Nach zwei Jahren das erste Mal Urlaub! Hab mich von dieser Firma auslutschen lassen, bis ich mich selber gefühlt habe wie Ur-Laub. Alt, faltig und verknittert.
Wider Erwarten verspricht mein Spiegelbild gute Aussichten für den Tag. Um die Augen noch etwas wolkig, ansonsten heiter. Ich stelle mich mal auf die Waage. Gut, sagen wir, mein Satinnachthemd wiegt für sich schon mindestens 3 Kilo, die werden also abgezogen und natürlich minus 750 Gramm Schlaf in meinen Augen. Ergibt ein phänomenales Endresultat. Meine Haare sind auch relativ schwer, muss man ja bedenken, und irgendwie kommen sie mir heute sogar noch länger vor als gestern Abend. Ich streiche mit den Fingern hindurch. Seidig. Wirklich. Und ganz weich. Schön. Und die Haarspitzen fallen bis über meine Schlüsselbeine, wo sie die nackte Haut kitzeln.
Ich gehe in den Flur, der noch fast ganz dunkel ist. Die Stecker, die ich herausgezogen habe, liegen wie tote Schlangen auf dem Boden. Ich schiebe sie mit dern Fuß zusammen und reiße das Papier vom Faxgerät ab. Das Papier unter meinen Fingern ist ganz glatt, fast seidig, beinah entgleitet es mir. Ich roll es zusammen und lege es neben das Gerät. Das erste Mal, seit ich es gekauft habe, fällt mir auf, dass mein Fax keine Ecken hat. Alles ist rund. Nur die Papierausgabe ist eckig.
Ich lasse meine Hände über den Kunststoff gleiten und spreize die Finger jeder Wölbung entgegen. Erst als ich die Augen leicht schließe, bemerke ich, dass die Oberfläche etwas rau ist, und ich fühle das Schwarz. Ja, ich kann das Schwarz fühlen. Meine Finger umkreisen die Tasten, die glatter sind als der Rest, glatter als die Haut an meinen Fingerkuppen. Ich stupse mit meiner Nase an einen Knopf. Meine Nasenspitze ist die weichste Stelle an meinem ganzen Körper, aber auch sie ist nicht weich genug. Vielleicht meine Zunge. Ich lasse sie breitflächig einmal quer über das Gerät fahren, umfahre eine runde Ecke. Der etwas körnige Kunststoff prickelt, ein leicht metallischer Geschmack ummantelt die Innenseiten meines Mundes, als ich an einer Schraube vorbeilecke. Nur mit der Zungenspitze taste ich mich vor bis zu einem Knopf, der etwas hervorsteht.
Um ihn erreichen zu können, muss ich mich weit nach unten beugen und mich mit den Händen an der Wand vor mir abstützen. Meine Finger suchen Halt auf der weißen Raufasertapete, ich kralle die Nägel um die kleinen Knubbel, die sich mir ebenfalls entgegenzurecken scheinen. Wie hunderte von kleinen Brustwarzen. Eine angenehme Gänsehaut gleitet wie ein kaltes Seidentuch meine Kniekehle hoch bis zwischen meine Oberschenkel. Ich straffe die Schultern und spüre, wie sich meine Schulterblätter einander nähern. Die Haut über meinem Brustkorb spannt sich. Meine Haare, die wie ein Vorhang neben meinem ausgestreckten Arm hinunterhängen, werfen leichte Schatten auf mein Dekolleté. Der Träger meines Nachthemdes liegt verführerisch bedrohlich an meiner linken Schulterkante. Solange die Arme oben an der Wand lehnen, kann er nicht runterrutschen, selbst wenn ich es wollte. Ich beuge meinen Kopf wieder, und meine Zunge gleitet wie selbstverständlich zwischen meinen Lippen hervor, die sich willenlos teilen lassen. Vorsichtig tastet die Zungenspitze den schwarzen Rand ab, fährt an der scharfen Kante der Papierausgabe entlang, einen Moment genieße ich den kurzen intensiven Schmerz an der Zungenunterseite, als ich über die spitze Ecke streiche und ein wenig hängen bleibe. Ich knabbere mit den Zähnen daran und umschließe sie mit meinen Lippen. Meine Zunge stupst vorwärts, neugierig wie ein Welpe, hungrig wie ein Vogelbaby.
Im Vergleich dazu sind meine Finger verkrampft und krallig, aber ihre Spannung setzt sich im Arm fort, in den Schultern, im Rücken. Ich spüre jeden Muskel, jede Sehne, jede Ader. Die kleinen Härchen an meinem Unterarm haben sich aufgestellt. Ich spüre die Gänsehaut noch immer zwischen meinen Beinen, und je stärker ich mich an der Ecke festsauge, desto höher kriecht sie. Gleitet über den feucht-weichen Stoff meiner Unterhose, hinauf zu meinem Bauchnabel, dort, wo mein Herzschlag fordernd pulsiert. Speichel läuft mir im Mund zusammen, umfängt den Kunststoff, dringt hinaus aus meinen Mundwinkeln. Ich ziehe die Lippen über die Zähne und fahre vorsichtig mit dem Mund an der Ecke auf und ab. Die Gänsehaut zieht wie eine Armee aus Millionen von Kriegern meine Rippenbögen hinauf. Wo sie war, wird mir warm. Ich löse meinen Mund von der Papierausgabe und stupse mir mit meiner Zunge den Weg zurück zu dem kleinen, glatten Knopf, der sich mir jetzt noch fordernder entgegenreckt. Kühl, glatt und schwarz. Wie ein in feinstes Satin verpackter Eiswürfel. Weich. Und ganz rund. Perfekt. Meine Zungenspitze umspielt ihn. Runde um Runde. Wann immer sich meine Lippen in das Spiel einmischen wollen, ist die Zunge schneller, streckt sich noch ein bisschen mehr, dehnt sich. Das fühlt sich gut an. Die Gänsehaut erreicht die Wölbung meiner Brüste, schleicht in meine Achselhöhlen. Mir ist warm, ganz wohlig warm. Nur der Mund ist kühl, die äußere Haut meiner Lippen, die tastende, suchende, neugierige, hungrige Zungenspitze. Obwohl mein Atem heiß ist und feucht. Er beschlägt den rauen Kunststoff, macht ihn neblig, wo er ihn trifft. Nur der kleine, glatte Knopf bleibt, wie er ist. Sticht hervor, fordert Aufmerksamkeit. Ich möchte eine Körperstelle, die so ist wie der Knopf. Eine Stelle, die weiß, was sie will, die fordert.
In diesem Moment explodiert das Geräusch der Haustürklingel, ein akustischer Super-GAU, der meine gesamten Sinne lahm legt. Es dauert Sekunden, bis mein Herz seine Tätigkeit wieder aufnimmt, und ich finde mich wieder in der wahrscheinlich absurdesten Haltung, die ein Mensch seit der Steinzeit je eingenommen hat. Breitbeinig, mit beiden Armen an der Wand abgestützt, Arsch raus und mit dem Mund angedockt an einem Faxgerät.
Mein Kopartner klopft an die Tür. Nein! Er hämmert Ich werde mich anziehen, ihm aufmachen und mich auf die Arbeit stürzen. Wer mit Urlaub nicht umgehen kann, der sollte keinen machen.
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