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Vegesack rockt gallisch und seebärengleich

Beim 4. Festival „Musik Maritim“ ging es am Wochenende in Vegesack um mehr als „Blaue Jungs“ und „Waterkant“

Bei 120-beats-per-minute rockte Vegesack zum „drunken sailor“

„Ich singe die Lieder im Originalzustand von 1880“, erklärt Sänger Geoff Grainger. „Ich hab sie nämlich von meiner Mutter gelernt. Und die hat sie im Waisenhaus aufgeschnappt.“ Mit seinem wallenden weißen Bart und seiner englischen Konzertina verkörpert der Brite wie kaum ein anderer auf dem 4. Festival Musik Maritim an diesem Wochenende in Vegesack das Bild des singenden Seebären.

Dabei war er wirklich einer. „Mit 16 bin ich zur Royal Navy gegangen“, berichtet der in der Nähe von Birmingham Geborene. „Bis 30 hatte ich überhaupt kein geregeltes Leben.“ Welche Bühne könnte also besser zu seinen eigenwillig vorgetragenen Songs passen, als der Zwei-Mast-Segellogger „Vegesack“. Und so sang der Mann aus dem Niemandsland zwischen Nordengland und Wales mit kräftiger Stimme die derben Lieder von Köchen, Frauen und Seeleuten und den Verwicklungen, die es zwischen diesen Gruppen geben kann. „Wenn meine Mutter mich hier singen sehen könnte, wäre ihr das furchtbar peinlich“, fügt er hinzu. Insgesamt 14 Shanty-Chöre und 22 Bands aus acht Ländern bevölkerten am Samstag und am Sonntag die Straßen und sechs Bühnen an Vegesacks Weserufer. Die musikalische Bandbreite reichte dabei erheblich über das hinaus, was vordergründig als „maritime Musik“ verstanden wird: Shantys und Rumtata. Dass sich moderne Meeresklänge in fließendem Übergang zu keltischem Folk befinden, ist Ehrensache. Schließlich umtosen Irland, Schottland und die Bretagne wilde Meere. Die Resultate reichen von rauhen Saufsongs bis hin zu tragisch-herzzerreißenden Balladen.

Melancholisch und sozialkritisch etwa ging es bei der Drei-Mann-Gruppe „Sula“ aus Dänemark zu, benannt nach dem nordatlantischen Eissturmvogel. Sulas schottischer Sänger Rod Sinclair erinnerte mit seinen Erläuterungen denn auch daran, dass nicht wenige der in Sea- und Folk-Songs besungenen Begebenheiten ihren Ursprung in schreienden sozialen Ungerechtigkeiten und bitterer Armut hatten.

Trotz der Breite des Angebotes dominierte unter den vielen tausend Besuchern tagsüber die Altersgruppe zwischen 40 und 70. Ein großer Teil dieser maritimen Fans wurde offenkundig in ihrer Sturm- und Drang-Phase in den wilden 70-ern durch eine Band Folk-sozialisiert – die Dubliners. Kaum eine Bühne, auf der nicht irgendwann einer der zeitlosen Whisky-Verherrlichungs-Gassenhauer zu hören war. Die Gruppe „Mechanicy Shanty“ aus Polen zeigte allerdings, dass eine Übersetzung von „Wild Rover“ in fremde Sprachen nicht zwangsläufig auf „An der Nordseeküste ...“ hinauslaufen muss. Auch musikalisch anspruchsvollere Versionen sind machbar – und seien sie zum Lob des polnischen Ostseegestades.

Einen Höhepunkt erreichte das Festival zweifelsohne mit dem Doppelkonzert von „Long John Silver“ und „Tears for Beers“ am Samstagabend. Mit den Franzosen LongJohnSilwöhrr – Betonung auf der letzten Silbe – kam nicht nur eine neue Sprache ins Spiel. Die Bretonen brachten auch kräftigere Klänge mit – bis an die Grenze zum Hard Rock. Die trotz des Bombenwetters bis dato unterkühlten Nord- und zugereisten Südbremer wippten auch schon mal mit dem Fuß – und sangen gallische Refrains. Endgültig aber brach das Eis mit der Kieler Folk’n’Roll-Kapelle „Tears for beers“. Während bei Brake schon längst die rote Sonne in der Unterweser versunken war, hatte sich das Auditorium um glatte zehn Jahre verjüngt. Angetrieben durch poppige Kracher aus Fun Folk und Cow Punk, gab es schließlich bei der 120-beats-per-minute-Version von „What shall we do with the drunken sailor“ kein Halten mehr: Vegesack rockte. Thomas Gebel

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