Fremde im eigenen Land

Helga Hirsch hat Geschichten von Polen und Deutschen gesammelt, die Grenzgänger zwischen den Nationen waren. Eine historisches Buch zu einem aktuellen Problem

„Ich habe keine Schuhe nicht“ – so haben vor dem Zweiten Weltkrieg Deutsche im polnischen Lodz geredet. In die deutsche Muttersprache mischten sich seit Generationen polnische Worte, ja polnische Grammatik, wie hier die doppelte Verneinung. Im Rückblick erscheint vielen Lodzern die Stadt von damals als ein multiethnisches und multireligiöses Paradies, in dem Polen und Deutsche, Juden, Protestanten und Katholiken miteinander lebten, stritten, feierten – und untereinander heirateten. Dass es nicht ganz so idyllisch war, zeigt die Publizistin Helga Hirsch in acht „Geschichten von Menschen zwischen Oder und Weichsel“. Es sind allesamt Grenzgänger zwischen den Nationen, Menschen. die sich „dazwischen“ fühlten und die diese ethnische, nationale oder religiöse Offenheit im Zweiten Weltkrieg teuer bezahlen mussten. Denn im Krieg ist Eindeutigkeit gefragt: „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns.“

So fielen noch vor Beginn des Krieges die Deutschen in Polen allgemein in Verdacht, eine „fünfte Kolonne“ Hitlers zu sein, die nach dem Einmarsch des Feindes sofort mit diesem kollaborieren würde. Nach dem Krieg wiederum geriet jeder Pole, der Mitleid mit den wenigen im Lande verbliebenen Deutschen hatte, in Verdacht, ein Landesverräter zu sein. Ethnische Grenzgänger werden von ihrer Umgebung fast nie akzeptiert: so wie der polnische Zwangsarbeiter Adam Kostrzewa, dersich zu den Deutschen hingezogen fühlte, der den Polen im Zweiten Weltkrieg helfende Deutsche Teodor Müller oder Elfriede, die nach dem Krieg den polnischen Aufseher in einem Arbeitslager für Deutsche heiratete und sich Halina nannte. In Friedenszeiten werden sie bestenfalls geduldet, doch im Grunde werden sie fast immer verdächtigt, weder der einen noch der anderen Seite gegenüber loyal sein zu können. Auch heute, so schreibt Helga Hirsch in ihrer ausgezeichneten Einleitung zu den Porträts, „erwarten Nationalstaaten in Krisenzeiten eine unbedingte Zugehörigkeit und nationale Loyalität“, die dem Selbstverständnis des Individuums durchaus zuwider laufen könnten. „Auch heute dämonisieren sie den Gegner, wenn sie sich bedroht fühlen, angegriffen werden oder sich in einer Phase starker politischer Verunsicherung befinden.“

Dies sei heute nicht anders als damals. Besonders deutlich habe dies der Krieg in Jugoslawien gezeigt, wo plötzlich nur noch die nationale Herkunft von Bedeutung war, nicht mehr die tatsächliche individuelle Haltung. Die Ursache für das Denken in nationalen oder gar nationalistischen Kategorien sei nicht in mangelnder Bildung oder Aufklärung zu suchen, so Helga Hirsch, sondern in der menschlichen Psyche. Heimat, Sprache, Religion und eben Nationalitätsgefühl sorgen für ein Gefühl der Sicherheit: „Hier bin ich zu Hause, hier kenne ich mich aus, hier verstehen mich alle.“

So ist bezeichnend, dass nur einem der acht Porträtierten der Wechsel der Nationalität gelungen ist. Jerzy Hauptmann, der in einer deutschen Familie in Lodz geboren wurde, sich aber im Zweiten Weltkrieg als Pole fühlte und sich auch offiziell zum Polen erklärte. Er lebt heute allerdings in den USA, wo ihn niemand zur Eindeutigkeit zwingt.

GABRIELE LESSER

Helga Hirsch: „Ich habe keine Schuhe nicht. Geschichten von Menschen zwischen Oder und Weichsel“, 208 Seiten, Hoffmann und Campe, Hamburg 2002, 17,90 €