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Gedächtnis des Gewebes

Der dritte Puls des Körpers befindet sich im schützenden Bindegewebe von Kopf bis Becken. Die Cranio-sacrale Therapie hilft, wenn er aus dem Takt ist, und entlarvt traumatische Schmerzen

„Mal erzählt das Gewebe von Verletzungen, mal der Mensch“

von SANDRA WILSDORF

Der Körper vergisst nicht, auch wenn es so scheint. Wer nach einem Beinbruch wieder gehen und sogar rennen kann, der wird von Ärzten und Physiotherapeuten als nicht weiter behandlungsbedürftig entlassen.

Doch das Bein merkt sich, dass da mal was war. Und wie das so ist mit Traumata: sie zeigen sich häufig viel später und verwischen ihre Spuren. Dann tut was weh, und man weiß nicht gleich, warum. Die cranio-sacrale Therapie heftet sich solchen Schmerzen an die Fersen. Die Methode, die nach „cranium“ (Schädel) und „sacrum“ (Kreuzbein) benannt ist, arbeitet mit dem „cranio-sacralen Rhythmus“, dem neben Atmung und Herz-Kreislauf dritten Puls des Körpers.

Vor etwa 30 Jahren entdeckte der amerikanische Arzt John Upledger bei einer Operation, dass das Rückenmark pulsierte. In den folgenden Jahren beschäftigte er sich mit dem Phänomen, bewies die Existenz des cranio-sacralen Systems wissenschaftlich und entwickelte die cranio-sacrale Therapie. Gehirn, Rückenmark und Nerven zwischen den Wirbeln – das zentrale Nervensystem– umgibt schützendes Gewebe. Zwischen den Häuten fließt Gehirnflüssigkeit, die sich rhythmisch im Körper ausbreitet. Wie Ebbe und Flut zieht sich das Gewebe zusammen und entspannt sich wieder – vier- bis sechsmal pro Minute.

Ist an diesem Takt etwas gestört, dann schmerzt es. Diese Schmerzen können überall auftreten, denn zwischen dem cranio-sacralen System und den Organen, Muskeln, Knochen, Gefäß-, Hormon- und Nervensystemen bestehen enge Beziehungen. Die cranio-sacrale Therapie unterstützt den inneren Arzt und soll bei Kopfschmerzen und Migräne helfen, bei Nacken- und Rückenschmerzen, bei Kiefergelenkbeschwerden, Stress, orthopädischen Problemen und eben bei Nachwirkungen von Verletzungen.

Bettina Graumann ist Krankengymnastin und seit neun Jahren auf diese Therapie spezialisiert. Bei der Behandlung legt sie ihre Hände auf und erfühlt den Rhythmus des Patienten. Sie spürt, wo er aus dem Takt ist. Manchmal erzählt ihr das Gewebe von alten Verletzungen, manchmal tut es der Mensch.

Durch leichten Druck ihrer Hände hilft sie dem Körper dabei, seine eigentliche und eigene Entspannungsposition zu finden. Manchmal gleiten Körperteile in die Position zurück, in der sie verletzt wurden. Diese Verletzungen können Seele wie Körper betreffen, manchmal bringt das Erinnern alte Bilder und Ängste zurück. „Die meisten Patienten kommen unglücklich und gehen glücklich“, sagt Bettina Graumann selbstbewusst. Dazwischen liegt allerdings zuweilen ein „Sumpf, durch den man durch muss“. Weil Dinge an die Oberfläche kommen, die zunächst noch mehr schmerzen als die Schulter oder der Kopf, wegen dem man gekommen ist. Cranio-sacrale Therapie ist eine Form der Osteopathie, sie kann verschrieben werden. „Ich arbeite viel mit Zahnärzten zusammen“, sagt Graumann. Denn nächtliche Zähneknirscher und Kieferknacker hätten meistens Stress. Den zu beheben, schaffe selten die verordenete Schiene allein. Wohl aber ein Rhythmus, der wieder im Takt schlägt.

Viele Physiotherapeuten, Heilpraktiker und Ärzte wenden die Methode der cranio-sacralen Therapie an. Bettina Graumann ist unter ☎ 44 54 35 zu erreichen.

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