: Kulinarische Ästhetik
Im Spannungsfeld zwischen Literatur und Esskultur offenbart sich Lebensstil. Kochbücher können als soziales Statement gelesen werden
von MARTIN KALUZA
Es ist ein verbreiteter Irrtum zu meinen, Kochbücher wären dazu da, nach ihnen zu kochen. Erstens hat man sowieso nie das ganze Zeug im Haus, um rezeptgetreu zu agieren, und zweitens ist es schließlich auch nicht der Sinn von Krimis, Leser zu Mördern zu machen. Nein, Kochbücher muss man wie einen Roman von vorn nach hinten durchlesen, abends im Bett immer ein Kapitel. Man kann sie gar wie einen Gedichtband interpretieren.
Kluge Buchhändler wissen das. Und so standen neulich im Antiquariat „East of Eden“, dem vielleicht einzigen Buchladen in Berlin-Friedrichshain, in dem der Rock ’n’ Roll noch gelebt wird, zwei Kochbücher nebeneinander im Regal, wie sie sich besser kaum ergänzen könnten. Sie haben allenfalls gemeinsam, dass sie – anders als üblich – nicht auf die Vierpersonendurchschnittsfamilie ausgelegt sind. Und schon daran sieht man, dass es um weit mehr als um Kochanleitungen geht: Richtig verstanden kann ein Kochbuch ein soziales Statement sein, beziehungsweise es kann die Mutter aller sozialen Statements zum Ausdruck bringen, nämlich: eine Verweigerungshaltung.
Das geht gleich auf dem Umschlag los, zunächst beim englischsprachigen „The Single Vegan“ von Leah Leneman. „Single“ ist hier der Kernbegriff, er ist am größten geschrieben, oder genauer gesagt, er wurde aus Trockenpasta, Hülsenfrüchten und Beeren zusammengelegt und wird durch einen grünen Spargel dick unterstrichen. Untertitel: „Simple, convenient and appetizing meals for one.“ Ein Buch also für den Einzelgänger, für den Outlaw, für den Mann (oder die Frau), der seinen Weg geht, weil er weiß, dass er das Richtige tut.
Ein sprödes Werk. Die Autorin räumt zwar eingangs ein, dass die Einsamkeit des Kochvorgangs schon mit dem Frühstück beginnt, jedoch konzentriert sie sich auf die Hauptmahlzeiten. Rezepte für jeweils fünf Wochen im Frühjahr/Sommer und im Herbst/Winter finden sich in dem Buch, zu jeder Woche ein Einkaufszettel – nur sonntags gibt es zwei Mahlzeiten und Nachtisch.
Jede Zutatenliste ist dreifach aufgeführt: auf „Imperial“, auf „American“ und auf „Metric“. Der Unterschied ist, dass eine Unze auf Imperial „oz“ heißt, auf American „ounze“ und auf Metric 30 Gramm entspricht – ein Multikultikonzept also.
Und ist es Zufall? Das Exemplar aus dem „East of Eden“ hatte eine politisch engagierte Vorbesitzerin gefunden. In die letzten Seiten eingelegt findet sich ein handschriftlicher Brief, in dem Jill (so heißt sie) dem Kundendienstleiter ihres örtlichen Supermarktes globalisierungskritische Anmerkungen zukommen lässt und darum bittet, verstärkt Lebensmittel aus nahe gelegenem Anbau einzukaufen. (Die Autorin übrigens empfiehlt im Abschnitt über Zutaten eine Hefe, die sie sich aus den USA einfliegen lässt – das Buch ist in London erschienen.)
Lenemans Buch ist inzwischen vergriffen, doch es wurde unter dem Titel „Vegan Cooking For One“ neu aufgelegt. Hinter dem neuen Titel steht wohl die Einsicht, dass Veganer selbst dann häufig für sich alleine kochen, wenn sie eine Familie haben. So oder so eine Anleitung, mit der Isolation zu leben.
Daneben steht nun mit Micha Schulzes „Scharfmacher. Das große Kochbuch für Schwule“ eine Sammlung von Rezepten, für die der Autor Prominente und Szenegrößen befragt hat. Auch hier ist auf dem Umschlag zunächst Gemüse abgebildet, doch ein weich ausgeleuchteter junger Mann liegt mit strahlenden Augen und einem Petersilienzweig in den makellosen Zähnen zwischen Tomaten und Pilzen. Ob die nun ausgerechnet aus lokaler Kreislaufwirtschaft kommen, lässt sich schwer sagen. Im Buch finden sich gleich mehrere Rezepte mit Wurst.
Die These, dass es in Kochbüchern nicht um das Nachkochen von Rezepten geht, bestätigt sich hier übrigens schon beim flüchtigen Blättern. Pelle Pershings Rezeptvorschlag besteht etwa darin, zehn Heteros zu sich einzuladen (die Frauen bringen übergroße Salatportionen mit, Männer den Sprit), die Party mit vorgetäuschten Kopfschmerzen abzubrechen und eine Woche von dem ganzen Krempel zu leben. Frau Görke schwört auf „Erasco Appetit-Menü Hacksteaks“, Hella von Sinnen besorgt „Pommes rot-weiß“. Aber bitte: Ausgeklügeltes wie Lachsfilet in Champagnersenfsauce kommt ebenso vor wie längere Exkurse über die orientalische Küche.
Einige der Serviervorschläge in den „Scharfmachern“ sind für Singles geradewegs utopisch: Grießpudding, Spaghetti und Früchte werden vor dem Verzehr nicht auf Tellern, sondern auf dem ausgestreckten Körper eines Mitmenschen drapiert.
So entwickelt sich gleichsam ein Spannungsbogen zwischen den beiden Rezeptsammlungen sowie den Lebensentwürfen, die sie zum Ausdruck bringen: auf der einen Seite das Hülsenfrucht- und Tofukompendium mit Schwarzweißaquarellen für den strengen, vermutlich etwas blassen und latent protestantischen Genussverweigerer; auf der anderen Seite die bunt bebilderte Kochanleitung des unbekümmerten Hedonisten, für den der Sex schon beim Essen anfängt.
Andererseits: Man sollte solche Gegensätze vielleicht auch nicht ohne Not intellektuell überhöhen. Schließlich gibt es – auch über die Ablehnung der Vater-Mutter-zwei-Kinder-Familie hinaus – Berührungspunkte. So führt Schulze in den „Scharfmachern“ auch ein Rezept für vegetarischen Saumagen auf. Basiszutat: ein Kilo Tofu. Es mag nur eine Frage der Zeit sein, bis die Veganerseite „Scharfe Spiele mit Soja für eine Person“ nachlegt.
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