Pauschalurlaub in Neukölln

Von der Berliner Hochhaussiedlung Gropiusstadt gibt es zwar keine Ansichtskarten, dennoch lässt es sich zwischen Parkhäusern, Shoppingmeilen und einer Windmühle trefflich urlauben. Ein Reisereport vom unteren Ende der Stadt

von VERENA MÖRATH
und UWE LENHARDT

Last Minute, Richtung Süden. Das Angebot klang verlockend: möblierte Zweizimmerwohnung, Küche, Bad und Balkon, im achten Stock, mit Aufzug! Wir brauchen weder Pass noch Visum, werden weiterhin Deutsch sprechen und mit Euro bezahlen. Kein Schlangestehen am Flugschalter, keine Gepäckkontrolle – es geht eben alles ganz einfach, wenn man vorhat, eine Woche in der Gropiusstadt, südliches Berlin-Neukölln, Familienurlaub zu machen.

Die Anreise vom Heimatbezirk Prenzlauer Berg dauert nur fünfzig Minuten, dann stehen wir vor unserem Feriendomizil. „Das da?“, fragt unsere kleine Tochter, ihren Kopf weit nach hinten geneigt. „Das ist ein Hochhaus, hier werden wir wohnen.“ Die Nüchternheit unserer Erklärung entspricht dem Objekt: Sollmannweg 2, ein Gebäude im Siebzigerjahrestil, mit 23 Geschossen, 135 Klingelknöpfen und ebenso vielen Briefkästen. Alles schön ordentlich und sauber, keine Graffiti, kein Gestank. Den Eindruck eines heruntergekommenen Problemquartiers macht das nicht. Auch die ersten Hausgenossen, denen wir begegnen, überraschen uns: Sie sind sehr höflich, grüßen freundlich und halten uns die Türe auf.

Angekommen, ausgepackt – was nun? Laut Reiseführer herrscht hier in puncto Sehenswürdigkeiten Fehlanzeige. Die Gropiusstadt wird mit dem Hinweis erledigt: „nüchterne Massensiedlung, ein Symbol für das Scheitern des Projekts der Moderne“. Offenbar gibt es nichts, was man unbedingt gesehen haben muss. Auch gut – so stehen wir nicht unter dem Zwang, begeistert zu sein.

Unser erster Spaziergang. Wir folgen der südlichen Grenze der Gropiusstadt, am Kölner Damm und an Bahnschienen entlang, die uns zum Rudower Wäldchen führen. Hier irgendwo fing früher die DDR an. Aus einem Stall dringt Pferdegeruch, einige Hühner hocken herum. Ein paar Schritte weiter entdecken wir hinter einem Zaun Schafe, die zwischen Tischtennisplatten und Bretterbuden grasen. Ein wirklich schöner, großer Abenteuerspielplatz, auf dem allerdings weit und breit kein Kind zu sehen ist. Ein Jogger kommt uns entgegen, dann sind wir wieder alleine. Sind wir tatsächlich dort, wo auf engem Raum rund 37.000 Menschen wohnen?

Am nächsten Tag fahren wir auf unseren Fahrrädern los und suchen sie. Am Lipschitzplatz gibt es das Café Thiele, zugleich die Bäckerei am Ort, mit fünf Tischen draußen und fünf Tischen drinnen. Hier treffen sich die Bewohner des Seniorenwohnheims nach ihren Einkäufen oder Arztbesuchen. Der benachbarte Zeitungsladen führt zielgruppengerecht eine enorme Auswahl an (Haus-)Frauengazetten, Fernsehzeitschriften und Groschenromanen. Kaum ein Kunde kommt ohne Hund. Im Schaufenster wirbt ein Plakat für eine Hasen- und Hühnerschau in Rudow am kommenden Wochenende, immerhin.

Wir fragen die Bedienung, was man denn sonst noch in der Gropiusstadt so besichtigen könne. Die junge Frau ist sichtlich verdutzt, muss überlegen, denkt vielleicht auch, dass wir sie auf den Arm nehmen wollen. Schließlich schickt sie uns in die Gropiuspassagen.

Wir brechen auf, überqueren den Bat-Yam-Platz, am Gemeinschaftszentrum mit den Kegelbahnen vorbei. Noch ein Seniorenwohnheim. Langsam lichtet sich der Beton und weicht einem parkähnlichem Grünstreifen, links und rechts erheben sich die Wohnkomplexe. Kaum jemand unterwegs, die Stimmung ist träge. Von Weitem vermitteln die hohen Häuser den Eindruck von Urbanität, und doch haben wir das Gefühl, in einem Dorf gelandet zu sein.

Am Shoppingcenter angelangt, erkennen wir sofort: Hier sind die Menschen. In dem Getümmel verflüchtigt sich unsere merkwürdig entrückte Stimmung schnell, was uns hier an künstlicher Erlebniswelt geboten wird, kennen wir nur allzu gut. Ein Informationsflyer der Gropiuspassagen droht: „Jetzt noch mehr drin!“ Konkret heißt das: 180 Geschäfte und 2.100 Autoparkplätze, so viele wie nirgends sonst in Berlin und Brandenburg.

Unser Kind wird von dem hektischen Betrieb bald kirre, verlangt nach diesem und jenem. Wir flüchten und verlaufen uns ins Parkhaus, Deck D. Durch die Lamellenfenster schauen wir auf Ausschnitte der Gropiusstadt: Hochhäuser, Baumwipfel, Fensterreihen. Wir finden den Aufzug, dann den Ausgang und eine Eisdiele. Die Kugel zu 70 Cent, hier beweist die Gropiusstadt Weltniveau.

Irgendwann stehen wir vor dem hohen Halbrund des „Gropiushauses“, so ziemlich das Einzige hier, was wir vom Hörensagen schon kannten. Man fühlt sich wie in einem riesigen Amphitheater, aber das Publikum ist unsichtbar. Wer in den 506 Wohnungen mag uns jetzt beobachten? Auch der Spielplatz ist verwaist. Offenbar fehlt die Kundschaft, wie wir schon häufiger beobachten konnten.

Es dauert eine ganze Weile, bis uns zwei Frauen begegnen. Wir bitten sie, uns vor der Kulisse des Hauses zu fotografieren, schließlich gibt es in der Gropiusstadt nur zwei, die tatsächlich nach den Plänen ihres berühmten Namensgebers gebaut wurden. Eher zufällig erfahren wir, dass es sich mit seinen 32 Stockwerken um das höchste Wohnhaus Deutschlands handelt. Stünde es in Berlin-Mitte, würde sicherlich ein Schild darüber informieren, Touristen wären beeindruckt und ließen ihre Fotoapparate klicken. Hier sind es nur wir drei, die den Blick himmelwärts richten. „Gute Aussichten und ideales Wohnen“ verspricht ein Schild am Hauseingang. Wir würden das gerne glauben, haben aber genug vom Sightseeing. Also zurück in den Sollmannweg.

Wir sind froh, wieder in unserer Wohnung zu sein. Überhaupt fällt uns auf, wie sehr wir sie als Refugium benötigen. Die Wohnung ist unser Ruhepol, unser Aussichtsturm, abends kommen Freunde zum Essen und Quatschen, oder wir machen mit dem kleinen Schwarzweißfernseher auf Puschenkino. Hier haben wir alles, was wir brauchen, genügen uns selbst. „Gute Aussichten und ideales Wohnen“ eben. Für eine Weile jedenfalls.

Am letzten Tag drehen wir eine Abschiedsrunde und fahren Richtung Buckow. „Das da?“, fragt die Tochter wieder einmal. Nun sind wir selbst erstaunt und antworten: „Eine Windmühle.“ Tatsächlich: Hier, gerade noch so eben auf Gropiusstadt-Gebiet, steht die älteste Windmühle Berlins, heute eine Gaststätte. Das immerhin können wir dem Reiseführer entnehmen. Das junge Mädchen aus Friedrichshain hingegen, das hier seine Gastronomieausbildung absolviert und uns bedient, weiß darüber nichts zu sagen. Ansichtspostkarten gibt es auch nicht. Schade, ein paar Urlaubsgrüße hätten wir dann doch gerne verschickt.

Der Autor und die Autorin waren zu Gast in der Künstlerwohnung des „Pilotprojekts Gropiusstadt – Temporäre Kunstprojekte in der Öffentlichkeit einer Berliner Trabantenstadt“. Unter der Leitung von Birgit Anna Schumacher und Uwe Jonas werden zwischen April und Dezember 2002 in der Siedlung unterschiedliche Kunstprojekte (unter anderem Aktionen, Installationen, Skulpturen, Film) verwirklicht. Das „Pilotprojekt Gropiusstadt“ wird in Kooperation mit dem Kulturnetzwerk Neukölln e. V. realisiert, die Gehag unterstützt es im Rahmen des Stadtteilmanagements.