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Don‘t cry for me, Berolina

Sarrazin: Argentinischer Haushalt solider als Berliner Etat. SPD und PDS distanzieren sich im Parlament von „Giftliste“

Das Zitat des Tages war schon da, als das Abgeordnetenhaus am Samstag, 22 Stunden vor der Bundestagswahl, auf CDU-Antrag zur Sondersitzung zusammenkam. Mitglieder des vorher tagenden Hauptausschusses hatten noch am Frühstücksbrötchen gekaut, als Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) wieder einmal Klatext redete: „Der argentinische Haushalt ist von den Eckwerten her im Vergleich zu unserem durchfinanziert und solide.“ Das südamerikanische Land gilt als das Beispiel für Staatsbankrott. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) konnte sich zwei Stunden später vor dem Parlament mit einem gelungenen Auftritt noch so mühen: Da kam er nicht mehr ran.

Die so genannte Giftliste hatte die Abgeordneten zum Schlagabtausch kurz vor der Wahl zusammengebracht, jene zuvor aus Sarrazins Finanzverwaltung durchgesickerten Sparvorschläge über mehrere Milliarden Euro. Würden sie umgesetzt, fielen ihnen unter anderem der Tierpark Friedrichsfelde, 25.000 Studienplätze und Opernzuschüsse zum Opfer, zudem würden sich die Kita-Gebühren verdoppeln. Ein „Dokument der Gefühllosigkeit“ nannte sie CDU-Fraktionschef Frank Steffel.

Wowereit wies die Vorwürfe zurück: Die Vorschläge seien keine politische Liste und keine Liste des Finanzsenators. „Darum macht es keinen Sinn, zu einzelnen Punkten Stellung zu nehmen“, sagte er. PDS-Fraktions- und Landeschef Stefan Liebich legte noch eins drauf: „Die so genannte Giftliste ist vom Tisch.“

Sarrazin, der im Parlament nicht redete, trug im Hauptausschuss seine Sicht der Dinge vor. Im Mai habe er seine Beamten gebeten, „alle logisch denkbaren und rechtlich und technisch machbaren Einsparmöglichkeiten aufzuschreiben“. Das Ergebnis „ist kein Papier des Finanzsenators und schon gar nicht ein Vorschlag von mir“.

Dieser schrankenlose Arbeitsauftrag Sarrazins missfiel SPD-Fraktionschef Michael Müller. Der kritisierte zwar vorab die Sondersitzung als Wahlkampfshow der CDU, wandte sich dann aber an Sarrazin: „Nicht alles, was es an theoretischen Möglichkeiten gibt, muss man auch aufschreiben.“ Müller nannte dabei die Streichung der Zuwendungen für Verfolgte des Naziregimes und die Erhöhung von Kitagebühren. Das sei mit der SPD nicht zu machen. „Es bleibt dabei, dass wir die Kita-Gebühren nicht verdoppeln werden.“

Als Wowereit ausdrücklich zwar eine 100-prozentige Erhöhung, nicht aber eine sonstige Anhebung ausschloss, hakte FDP-Fraktionschef Martin Lindner nach: Wenn nicht um 100 Prozent, um wie viel dann?

Wowereit, bis dahin brillant und fast schon nervend lässig, Zwischenfragen gestattend und witzelnd, blieb die Antwort schuldig und geriet das einzige Mal ins Schwimmen. Dabei war sein Auftritt so gut inszeniert. Aus einem knapp zehn Zentimeter dicken Ordner las der Regierende zentrale Grausamkeiten der Giftliste und angeblich weitere Sparvorschläge vor – und wies dann breit lächelnd darauf hin, dass er aus einem Papier von 1993 des damaligen CDU-Finanzsenators Elmar Pieroth zitierte.

Wieder beschwor Wowereit dabei den Konsolidierungskurs des Senats, an dem kein Weg vorbei führe. „Das bedeutetet Einschränkungen auch für die Bürger dieser Stadt.“ Als Beispiele nannte er Personalabbau und sinkende Zuschüsse an Zoo und Tierpark, die aber nicht zur Schließung führen sollen. Ein konkretes Alternativkonzept zur Giftliste – die ja keine Senatspolitik sein soll – blieb er aber schuldig. STEFAN ALBERTI

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