Kultivierte Schrumpfung

Im Osten stapeln sich die Industrieruinen. Statt sie sofort abzureißen, könnten sie wie im Ruhrgebiet für Projekte genutzt werden. Das wäre gut für das Image der vielen Städte

Es gilt, eine Ästhetik zu entwickeln, die die Geschichte der Orte, auch ihren Niedergang nicht leugnet

Jetzt könnte es laut werden in Ostdeutschland: Anfang September wurden vom Bundesbauministerium die Ergebnisse des Wettbewerbs zum „Stadtumbau Ost“ bekannt gegeben. Bei diesem Programm geht es unter anderem um den Abriss eines Großteils der rund 1 Million leer stehenden Wohnungen im Osten, die Abwanderer und Eigenheimbauer in den Städten zurückgelassen haben. Abbruchunternehmen stehen vor einem Boom, die ostdeutschen Städte vor einem tief greifenden Strukturwandel.

Jahrelang waren die städtebaulichen, sozialen und finanziellen Folgen der dauerhaften Schrumpfung vieler Städte in Ostdeutschland ein Tabuthema, denn es ging nur um die Wachstumsvisionen der „blühenden Landschaften“. Erst der bevorstehende Bankrott kommunaler Wohnungsbauunternehmen und die rot-grüne Bundesregierung boten die Chance, das Problem anzugehen: die Anpassung der räumlichen Hülle an eine geschrumpfte Stadtgesellschaft, unterstützt durch das Programm Stadtumbau. Dieser Prozess ist jedoch oft von widersprüchlichen Strategien geprägt. Auf der einen Seite gibt es zögerliche Kommunalpolitiker, die Abrisslisten so lange wie möglich vor ihren Wählern geheim halten und am liebsten überhaupt keine Gebäude in privatem Eigentum auf die „schwarze Liste“ setzen. Auf der anderen Seite droht ein eilfertiger Aktionismus durch den Druck der Wohnungsunternehmen, denen das Wasser bis zum Halse steht.

In beiden Fällen scheinen die bevorstehenden Abrisse als Schmach und Schande empfunden zu werden. Der Suche nach einer Abrissstrategie, die Eigentümer und Beteiligte integriert, ist diese Grundhaltung nicht gerade förderlich: Dabei könnten die Stadtumbau- und Abrisskonzepte die Situation erheblich verbessern – von bankrotten kommunalen Unternehmen und verwahrlosten Straßenzügen wie Wohngebieten hin zu einer ausgeglichenen Stadtstruktur und zu neuen grünen Freiflächen. Stadtumbau lässt sich aber anders planen und erfahren als mit schlechtem Gewissen.

Das zeigt der Vergleich mit einem anderen ehemaligen „Schandfleck“: Die großen Industrieanlagen des Ruhrgebietes galten lange Zeit als hässlich, dreckig, als Störfaktoren in einer zu erreichenden Dienstleistungs- und High-Tech-Wirtschaft. Das änderte sich seit den 80er-Jahren: Denkmalschützer erkannten die historische und architektonische Qualität der Industrielandschaft, Kulturschaffende entdeckten vielfältige Räume für Arbeit und Präsentation sowie das spezielle Thema „Industriekultur“, Ökologen schätzten die Spontanvegetation auf den Brachflächen. Diese „Kultivierung“ des industriellen Erbes wurde erfolgreich vermittelt durch Pilotprojekte wie die Theateraufführungen in Maschinenhallen und die Arbeit der Internationalen Bauaustellung (IBA) Emscher Park. Die IBA sorgte für die theoretische Begleitung, organisatorische Koordinierung und erfolgreiche Veröffentlichung der vielen Projekte. Das Beispiel Ruhrgebiet zeigt, dass ein angeblicher Schandfleck und ein schmerzlicher Transformationsprozess auch als einzigartige, identitätsstiftende Chance nicht nur einfach theoretisch umgedeutet, sondern tatsächlich genutzt werden kann.

Aus dieser Strategie lässt sich für den ebenso schwerwiegenden Wandel in Ostdeutschland lernen. Oder ist die Euphemisierung der Abrissbirne von „Rückbau“ über „Stadtumbau“ hin zu „einzigartiger Chance“ reiner Zynismus? Vor demselben Vorwurf standen auch einmal Projekte im Ruhrgebiet, wie der IBA Emscher Park. Es wurde aber klar, dass zu dem umfassenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationsprozess auch eine veränderte Sicht auf seine Hinterlassenschaften gehören muss. Zum anderen wird der Prozess der Schrumpfung ja durch seine Nicht-Kultivierung nicht aufgehalten, er fällt lediglich schmerzhafter aus. Eine gewisse „Kultivierung der Schrumpfungsprozesse“ verspricht dagegen positive Folgen: Erstens werden sie nicht mehr als Schande erlebt, Beteiligte und Betroffene lassen sich somit leichter in die Planung einbinden. Die positive Öffentlichkeitsarbeit sorgt für einen Bekanntheitseffekt für Städte und Regionen. Und über die initiierten Projekte kann vielleicht sogar eine Art Identität für die Städte gestiftet werden.

Die verschiedenen Phasen der Häuserabrisse, Leerstand, Abriss und Nachnutzung, bieten jeweils unterschiedliche Möglichkeiten zum kreativen Umgang: Leer stehende und zum Abriss vorgesehene Gebäude stellen einen einzigartigen Raum für kulturelle Experimente dar: zum einen einfach als günstiger Arbeits- und Veranstaltungsraum, in den nicht mehr investiert werden muss und der auch gewollt nachlässig behandelt werden kann. Prominente Beispiele sind die Restnutzungen von Industriehallen von Berlin bis München mit Party- oder Sportveranstaltungen und Kunstprojekten wie dem eben zu Ende gegangenen „Dostoprimetschatjelnosti“ in einem Hellersdorfer Wohnhochhaus. Dabei sind die Akteure und das soziale Umfeld für diese Art von Restnutzungen keineswegs auf Großstädte beschränkt: auch in Kleinstädten existiert regelmäßig eine kleine, aber zu aktivierende Kulturszene.

Zum anderen können die Gebäude selbst einen einzigartigen Werkstoff für skulpturale Projekte in nicht gekannter Größenordnung darstellen: Der amerikanische Künstler Gordon Matta-Clark ließ mit seinen „cuttings“, zum Beispiel mit einem großen, in ein Abrisshaus durch mehrere Stockwerke hineingeschnittenen Hohlkörper, schon in den 1970er-Jahren die Möglichkeiten einer „house art“ ahnen. Und auch die Sandwüsten der Abraumhalden der IBA Fürst-Pückler-Land gewannen an Beachtung durch regelmäßige Land-art-Installationen.

Was und wo konkret abgerissen wird, muss unter größtmöglicher Beteiligung und in einem möglichst breiten Konsens entschieden werden. Erst dann kann dieses doch so spektakuläre Ereignis auch einmal inszeniert werden: warum nicht moderiert, mit Interview des Sprengmeisters und technischen Erläuterungen, abends, unter dramatischer Beleuchtung, mit Musik, Bier und Würstchen? Denn wenn in Berlin Baustellen zu Sehenswürdigkeiten inklusive Eintrittsgeldern werden konnten, warum nicht erst recht die noch viel aufregenderen Abrisse in Schwedt oder Hoyerswerda?

Die verschiedenen Phasen der Häuserabrisse bieten Möglichkeiten zum kreativen Umgang

Was dann bleibt, sind neu entstandene Freiflächen und erhaltene Gebäudeteile. Die vielfältigen Ansätze hierbei, von neuen Biotopen oder privaten innerstädtischen Gärten bis hin zu Stadtvillen aus recycelten Plattenelementen, müssen noch effektiver dokumentiert und veröffentlicht werden. Hier gilt es, eine Ästhetik zu entwickeln, die – analog zur „Industriekultur“ – die Geschichte dieser Orte, auch inklusive ihres Niederganges, nicht leugnet, sondern als einzigartiges Gestaltungsmerkmal integriert. Junge Landschaftsarchitekten und Architekten sind schon in den Startlöchern.

Das Stadtumbauprogramm steht noch am Anfang seiner Umsetzung, die Möglichkeit eines unverkrampften und positiven Umgangs mit dem doch Unvermeidlichen ist noch offen.

ACHIM SCHRÖER