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Im Tal der tausend Grenzen

aus Sokh PETER BÖHM

„Unsere Schweiz“ – so nennen die Leute von Sokh ihr fruchtbares Flusstal. Gärten und Wiesen sind saftig grün. Die auch im Hochsommer schneebedeckten Alaiski-Berge erheben sich majestätisch im Hintergrund, wie um für eine Fototapete Modell zu stehen. Auf der verwaisten Hauptstraße des Örtchens ist nichts zu sehen außer Getreide, das dort zum Trocknen ausgebreitet ist. Kommt ab und zu doch einmal ein Auto vorbei, bringt es neben Abwechslung noch den angenehmen Effekt, dass das die Körner gleich gedroschen werden.

Nicht nur der Anblick des engen Tals zwischen den Bergen Kirgisistans erlaubt den Vergleich mit der Alpenrepublik. Sokh ist reicher als sein Umland. Viele junge Männer gehen als Gelegenheitsarbeiter nach Russland und schicken einen Großteil ihrer Einkünfte nach Hause. Außerdem schenkt der Sokh-Fluss, der ihrem Tal den Namen gab, den Bauern das kostbare Nass für ihre Felder. In Breiten, wo das Land meist öde Grassteppe ist, wirkt Sokh wie ein kleines Paradies.

Sperren und Streit um Land

Doch der Eindruck ist trügerisch: Sokh liegt als usbekische Enklave zwanzig Kilometer innerhalb Kirgisistans. Die Grenzen der gesamten Region sind umstritten, was immer wieder zu Spannungen führt. Um nach Sokh zu gelangen, muss der Besucher fünf usbekische und ebenso viele kirgisische Straßensperren passieren. Und genügend Zeit für die Fragen des usbekischen Geheimdienstes einplanen.

Im Ferghana-Tal, dem Herzen Zentralasiens, liegen mehr als zehn solcher Enklaven. In dieser fruchtbaren, von hohen Bergketten eingerahmten Hochebene leben 20 Millionen Menschen. Das Tal erstreckt sich über Teile Usbekistans, Kirgisistans und Tadschikistans. Es gibt nur wenige Straßen, auf denen man keine Staatsgrenze überschreitet, so sehr sind die Territorien der drei Länder ineinander verkeilt. Manche der Enklaven haben nicht mehr als 500 Einwohner.

Die Sokh-Enklave ist mit 50.000 Einwohnern die größte. Sie zieht sich 60 Kilometer den Sokh-Fluss entlang und ist an einigen Stellen weniger als einen Kilometer breit. Auf dem usbekischen Gebiet mitten in Kirgisistan leben fast ausschließlich Tadschiken mit usbekischem Pass. Das macht die Verwirrung nicht geringer.

Der Fall Sokh ist typisch für die willkürlich gezogenen Grenzen zwischen den zentralasiatischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Moskau hatte sie in den Zwanziger- und Dreißiger Jahren absichtlich so gelegt, dass aus den Teilrepubliken keine ethnisch einheitlichen Gebilde entstanden. Bis Ende der Zwanzigerjahre kämpften in den unzugänglichen Bergregionen im Südosten der Union noch muslimische Guerilla-Gruppen, die so genannten Basmatschi, gegen die sowjetische Regierung. Sie wollten einen muslimischen Staat, ein Kalifat aller turksprachigen Staaten.

Zwar trafen im Herbst 1991 die Staatschefs der unabhängig gewordenen Republiken die weise Entscheidung, die Sowjetgrenzen nicht zu verändern. Nur dass keiner mehr genau wusste, wo sie eigentlich verliefen. Denn außer an einigen wenigen Stellen war der Grenzverlauf nicht gekennzeichnet. So gibt es heute tausende Kilometer strittiger Grenzen in Zentralasien, oft in unzugänglichem Terrain, die mühsam von bilateralen Kommissionen ausgehandelt werden müssen.

Das führt immer wieder zu nationalistischen Aufwallungen in Parlamenten und Presse und zu vergifteten Beziehungen zwischen den Regierungen. Die sind durch persönliche Animositäten der Staatschefs untereinander ohnehin äußerst fragil.

Ausgehandelt und markiert wurden bislang nur die usbekisch-turkmenische und die usbekisch-kasachische Grenze. Spannungen sind damit aber noch lange nicht beseitigt. An der usbekisch-turkmenischen Grenze kommt es immer wieder zu Schießereien, weil Dörfler nicht die umgerechnet 6 Dollar Visumgebühr zahlen wollen und illegal zwischen den Staaten hin und her ziehen. Dass die kasachische Regierung Anfang September das umstrittene Dorf Turkestanets Usbekistan überließ, hat ihr innenpolitisch sehr geschadet.

Vor allem jedoch die Grenzen im Ferghana-Tal sorgen dafür, dass die Region nicht zur Ruhe kommt. Erst 1955 hatte Moskau die Landverbindung der Sokh-Enklave nach Usbekistan gekappt. Warum, weiß niemand. Auch der heutige Bürgermeister nicht. Sayfi Adinov sitzt in seinem Büro an der Stirnseite eines leeren Konferenztisches. Die Gänge seines neu gebauten Rathauses sind verwaist, keine Türen gehen auf oder zu, keine Schreibmaschinen klappern – so als seien er und sein Sekretär die einzigen Menschen im Rathaus.

Bürgermeister Adinov zerbricht sich nicht den Kopf darüber, dass Sokh von kirgisischem Territorium umgeben ist. Strom- und Telefonleitungen kommen aus Usbekistan. Werden Leute ernsthaft krank, fahren sie über die Grenze zum Arzt. Einzig, dass die Bestechungsgelder an kirgisischen Straßensperren die Preise in die Höhe treiben, findet er erwähnenswert. „Wenn Sie zehn Säcke Zement auf ihrem Laster haben“, war schon unterwegs vom usbekischen Fahrer zu vernehmen, „müssen Sie damit rechnen, dass Sie einen an die Grenzer abgeben werden.“

Minen und Verhandlungen

Erstaunlicherweise ist es Kirgisistan, dem die usbekische Enklave Probleme bereitet und nicht umgekehrt. Es bedarf einer Reise in die Provinzstadt Batken, um die Ursache zu ergründen. Sokh stößt wie ein langer Finger nach Kirgisistan hinein. Die einzige Straße, die Batken mit dem Rest Kirgisistans verbindet, führt mitten hindurch. Als im April 2001 bekannt wurde, dass die kirgisische Regierung erwog, der Sokh-Enklave einen Landkorridor nach Usbekistan zuzusprechen – „200 Meter breit, für eine Straße und eine Eisenbahn“, sagt der Bürgermeister von Sokh – war der Aufschrei in der unabhängigen kirgisischen Presse und der Opposition groß. „Dadurch wäre die gesamte Südwestecke Kirgistans de facto vom Rest des Landes abgeschnitten worden“, sagt der Gouverneur des Batken-Distriktes Mamat Abailaev. Noch heute klingt die Aufregung in seiner Stimme darüber durch.

Das ist noch nicht einmal alles, was ihn ärgert. Seitdem islamistische Rebellen 1999 Sokh angriffen, hat Usbekistan die Grenze an vielen Stellen vermint. „Es gab seither mindestens 15 Unfälle, bei denen Menschen getötet oder verletzt wurden“, sagt der Gouverneur. Die Hirten in der Grenzregion müssen außer den Minen noch die Schüsse usbekischer Sicherheitskräfte fürchten. „Im Augenblick weiß doch noch niemand genau, wo die Grenze verläuft. Wie können diese Leute dann die Grenze verletzt haben!“, fragt Gouverneur Abailaev. Im August feierte deshalb die kirgisische Presse einen Mann als Helden, der zwei usbekischen Grenzsoldaten die Gewehre abnahm. Sie hatten ihn bedroht, nachdem er mit seiner Herde in die Nähe der Grenze gekommen war. Seitdem ist die Stimmung an der Grenze nicht besser geworden. Das ganze Jahr über gab es Demonstrationen im Süden Kirgisistans. Der Auslöser waren Zusagen Kirgisistans an China, das einen abgelegenen Grenzstreifen bekommen sollte. Nun kann sich die kirgisische Regierung nicht mehr erlauben, zu nachgiebig gegenüber einem der Nachbarn zu sein. Das macht die Situation im Ferghana-Tal so explosiv.

Sokh und seine Bewohner lassen sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Gerade erst haben sie am Rande ihres Örtchens einen neuen Freizeitpark mit handgeschnitzten Pavillons, einer bunt bemalten Moschee und einem Schrein für einen muslimischen Heiligen fertig gestellt. Jede Region der Enklave versucht, die andere mit schmuckvolleren Bauten zu übertreffen. Auf dem Dorfplatz streiten verschiedene Mannschaften allenfalls um den Fußball. „Wir können geduldig warten, welche Regelung die beiden Regierungen treffen werden“, sagt Bürgermeister Adinov. Auch ob die Reifen, die das Getreide auf der einsamen Dorfstraße überrollen, zu einem usbekischen oder einem kirgisischen Auto gehören, kann ihm egal sein.

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