: Nach dem Sieg der Postenkrieg
Nicht immer haben‘s Gewinner leichter. Bei der Positionierung der Grünen nach der Wahl geht es nicht nur um Ämter, sondern auch um Profil
aus Berlin PATRIK SCHWARZ
Frau Heise hat keine Kundschaft. „Referat ZT 2 Büro- und Geschäftsbedarf“ steht auf dem Schild, das an Frau Heises kleinem Tisch in einem weiten Flur des Reichstags hängt. Geduldig steht die Bundestagsangestellte bereit für die 55 frisch gewählten grünen Abgeordneten, die zu ihrem ersten Treffen in den Saal gegenüber strömen. Doch keiner der Neulinge verspürt Bedarf, sich bei Frau Heise nach Bleistiften und Tischkalendern zu erkundigen. Die Grünen haben andere Fragen an diesem zweiten Tag nach dem Wahlsieg.
„Wir werden nicht spekulieren – und heute schon gar nicht –, wie das mit den Personalfragen ausgeht“, stellt Fraktionschefin Kerstin Müller vor der Saaltür klar. Werner Schulz, der nach 1990 lange als führender Kopf der ostdeutschen Grünen galt, hat Müllers Warnung bereits großzügig übersehen. Im Radio brachte er sich noch vor Sitzungsbeginn als Kandidat für die Fraktionsführung ins Gespräch: „Ich wäre schon bereit dafür, aber ich muss natürlich von der Fraktion getragen werden.“
Der 52-Jährige warte offenbar auf einen Ruf, spottet umgehend ein Anhänger des amtierenden Fraktionschefs Rezzo Schlauch, „aber ich vernehme keinen Ruf“. Schulz muss darum noch nicht bange sein. Für seinen Platz auf der Berliner Landesliste schlug er erfolgreich die Favoriten Andrea Fischer und Christian Ströbele aus dem Feld – ebenfalls ungebeten. Als Konkurrent brachte sich Reinhard Loske ins Gespräch, der nicht nur umweltpolitischer Sprecher der Fraktion ist, sondern auch Mitglied im Parteirat: „Ich würde mir das durchaus zutrauen.“
Wer also führt die Fraktion durch eine Legislatur, die um einiges schwieriger werden könnte als die vergangene? Die Entscheidung birgt aus grüner Sicht mehr Konfliktpotenzial als die Zusammensetzung des Kabinetts (siehe unten). Rezzo Schlauch sieht keinen Anlass, seinen Herausforderern zu weichen. „Never change a winning team“, argumentieren seine Unterstützer. Nicht nur schätzt der Kanzler den Genussmenschen, Schlauch sitzt auch in der Delegation, die die neue Koalitionsvereinbarung aushandeln soll.
Während die Medien ihm vor allem seinen Bonusflug nach Bangkok vorwerfen, gilt die Kritik in den eigenen Reihen seinem Führungsstil. „Man kann Rezzo Schlauch schlecht in Verhandlungen schicken“, sagt ein Kritiker. Der Obergrüne habe der SPD zu oft und zu schnell Zugeständnisse gemacht, die man dann mühselig habe „zurückholen“ müssen. Bei grünen Standpunkten sei er „nicht bibelfest“.
In dieselbe Kerbe schlägt der Ostdeutsche Schulz, der mit seiner Bewerbung nach der Wahl 1998 Schlauch unterlegen war. Schlauch „hatte seine Chance, meine steht möglicherweise noch bevor“, sagte er gestern.
Einfacher ist die Situation für Schlauchs Kollegin Kerstin Müller. Ihr droht offenbar keine Kampfkandidatur, auch wenn zwei Abgeordneten Ambitionen auf ihre Position nachgesagt werden: der parlamentarischen Geschäftsführerin Katrin Göring-Eckardt und der Sozialexpertin Thea Dückert, die einst in Gerhard Schröders rot-grüner Koalition in Niedersachsen die grüne Fraktion leitete. Beide wollen sich angeblich nur bewerben, wenn die Stelle frei ist – wenn Müller etwa als Staatsministerin ins Auswärtige Amt wechselt.
Ein mächtiger Anwärter auf den Fraktionsvorsitz trug gestern immerhin zur Entspannung bei. In der Sitzung im Reichstag, an der auch die demnächst ausscheidenden Abgeordneten teilnahmen, erklärte Fritz Kuhn, er wolle Parteichef bleiben. Nach dem guten Abschneiden der Grünen war zunächst spekuliert worden, auch Kuhn könnte Schlauch Konkurrenz machen.
Nun will er gemeinsam mit Claudia Roth die Partei weiterführen. Wollen beide dazu ihre Bundestagsmandate behalten, muss die grüne Basis dazu freilich noch ihr Plazet geben. Auf dem Parteitag am 18. und 19. Oktober in Bremen steht darum ein Klassiker auf dem Programm: die Aufhebung des Verbots für grüne Parteifunktionäre, gleichzeitig in Parlamenten zu sitzen. Der informelle Freundeskreis für die Trennung von Amt und Mandat formiert sich freilich schon. „Wir wollen doch keine Aufweichung“, sagte gestern Christian Ströbele – und lächelte: „Ich bleibe ein Hardliner.“
Es gibt freilich auch Grüne, die sich in ihrer Partei mehr ums Profil als um Posten sorgen. „Unser Glanz steht und fällt damit, dass wir ein Gespür für Themen haben, die sich gerade erst anbahnen“, sagt Antje Vollmer, ewige Vordenkerin der Partei. Das Qualitätsmerkmal der Grünen sei ganz einfach zu benennen: „Die haben’s früher als andere gespürt.“ Darauf müsse die Partei auch künftig setzen. So prophezeit sie den Deutschen: Was die Debatte um embryonale Stammzellen in der vergangenen Legislatur war, werde diesmal das Thema Sterbehilfe sein. „Das wird kommen in allen älter werdenden Gesellschaften.“
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