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Ein Lebens-Geschenk

Weil jedes Leben wert ist, erinnert zu werden, macht docu Vive Biographien für ganz normale Menschen: Als Buch, Hörbuch oder Film. Denn jede Geschichte hat ihr eigenes Drehbuch

von SANDRA WILSDORF

„Dieses Buch habe ich für Euch erzählt. Nicht, weil ich glaube, daß mein Leben so spannend wie ein großer Roman ist. Aber wir sind eine Familie. Leider wohnen wir alle in zum Teil großer Entfernung. Wir sehen uns nicht so oft, erzählen nicht so viel, wissen nicht alles voneinander. Aber je mehr man voneinander weiß, desto besser versteht man sich. Dieses Buch soll meine Erinnerungen bewahren und an Euch weitergeben. Und es soll Euch danken für den Teil des Weges, den wir gemeinsam gegangen sind – und für die Freude, die ihr in mein Leben gebracht habt.“

So persönlich wird wohl selten ein Leser angesprochen, so vom eigenen Vater, Großvater, Onkel oder Freund. Günter Philip hat seinem Buch den Titel „Durchboxen“ gegeben, und es erzählt die Geschichte seines eigenen Lebens, aufgeschrieben für seine Kinder und Enkel.

„Das Leben erfindet die besten Geschichten“, sagt man oft so dahin. Doch nicht jeder kann sein Leben erzählen, nicht jeder findet Zuhörer, die hinter tausendmal gehörten Kamellen die große Geschichte sehen. Und so nehmen die meisten Menschen ihren ganz persönlichen Roman mit ins Grab.

Jochen Franke und Christian Seltmann haben das Erinnern, Bewahren und Weitergeben von Lebensgeschichten zu einer Unternehmung gemacht. Sie machen Bücher, Hörbücher oder auch Filme aus den Lebenswegen von Menschen, die nicht so berühmt sind, dass Biographen bei ihnen klingeln würden. Sie dokumentieren Lebensgeschichten nicht für den Buchhandel, sondern für die, die Teil dieser Geschichten sind. Ihre Auftraggeber sind Kinder, die Vater oder Mutter zum Geburtstag mit der eigenen Geschichte in Buchform überraschen, ältere Menschen, die ihren Enkeln erzählen wollen, wie die Oma war, die leider viel zu früh gestorben ist. Oder Menschen, die die Geschichte ihres Aufstiegs und Falls all denen schenken wollen, die sie dabei begleitet haben. Häufig müssen Menschen dazu erst überredet werden, „ach, was ich erlebt habe, das interessiert doch keinen“, sagen sie. „Aber das stimmt einfach nicht“, sagt Franke. Er und Seltmann wollen die Biographie aus der Prominentennische herausholen und träumen davon, „dass das Bedürfnis, seine Erlebnisse und Erinnerungen weiterzugeben, irgendwann genauso selbstverständlich wird, wie ein Testament zu schreiben“.

Die beiden docu Vive-Gründer kommen vom Fernsehen. Christian Seltmann ist Historiker, hat als Lektor gearbeitet und später als Autor und Redakteur. Jochen Franke hat Theaterwissenschaften studiert, als Dramaturg und jahrelang als Drehbuchautor gearbeitet. „Aber das hat mich irgendwann nicht mehr glücklich gemacht.“ Er habe gut verdient, „aber mir hat die Reaktion und die Auseinandersetzung gefehlt“. Was sein Großvater erzählte, das fand er spannend.

Allerdings nicht immer: „Ich habe leider viel zu spät damit angefangen, mich ernsthaft mit ihm zu beschäftigen.“ Der alte Herr starb im vergangenen August im Alter von 93 Jahren. Er war ein großer Erzähler, doch niemand in der Familie konnte seine Geschichten aus zwei Weltkriegen und vom Schmuggeln mehr hören. Er freute sich, dass ihm endlich jemand zuhörte, erzählte dem Enkel begeistert aus seinem Jahrhundert. „Irgendwann habe ich angefangen, das aufzuschreiben“, sagt Franke. Er hätte es dem Großvater gerne geschenkt, ist aber nicht mehr fertig geworden.

Zwei Jahre lang hat er die Frage mit sich herumgetragen „was kann ich mit meinen Fähigkeiten anfangen?“ Er wollte immer „eine Firma mit Schreiben aufmachen“. Nicht länger Drehbuchautor sein und auch nicht Schriftsteller, sondern von Anfang an „groß, professionell, schillernd“. Dann kam ihm die Idee von docu Vive. Und weil sein Freund aus alten Fernsehtagen, Christian Seltmann, die gleichen Ideen hatte, bezogen die beiden gemeinsam ihr Büro mit Blick auf die Speicherstadt.

Ihr erster Kunde war Günter Philipp, „der Vater einer Bekannten“. Die Biographie, die er bei einer kleinen Feier verteilt hat, „hat Unglaubliches ausgelöst“, sagt Franke. Menschen reden wieder miteinander, die seit 40 Jahren glaubten, einander nichts mehr zu sagen zu haben. Sie haben neue Seiten eines längst bekannt geglaubten Menschen entdeckt. Denn Franke und Seltmann hat er erzählt und aufschreiben lassen, was er seiner Familie gegenüber nie gesagt hat. Dinge wie: „Ich war eigentlich immer ein schüchterner Junge, der sich nichts traute.“ Tage und Wochen hat er gemeinsam mit den beiden Autoren die Seiten seines Lebens durchgeblättert, hat ihnen erzählt, wie er sich durchgeboxt hat und dabei auch immer wieder auf der Matte gelegen hat. Sein Schlusswort:

Ich habe durch das Boxen früh gelernt, mutig und hoffnungsvoll in den Ring zu steigen. Ich habe gelernt, viel einzustecken, in die Seile oder zu Boden zu gehen und immer wieder aufzustehen. So halte ich es auch im Leben, zumindest versuche ich es. Aber erst wenn der große Ringrichter den Kampf abbricht und das Handtuch für mich wirft, werde ich wissen, ob ich nach Punkten gewonnen oder verloren habe. Vielleucht verliere ich durch Knock Out. Wie ich schon sagte, das ist eigentlich gar nicht schlecht, sogar ein schönes Gefühl. Es tut nicht weh, das Licht wird einfach ausgeknipst, und man sackt weg.

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