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Das ernsthafte Leben im Luftschloss

„Ich habe gelernt, andere Akzente zu setzen“: Weil er im Zivildienst nicht in Berlin Essen auf Rädern ausliefern wollte, ist Alexander Liedtke nach Weißrussland gegangen. In Nowinki, einem Vorort von Minsk, betreut er nun krebskranke Kinder. An sein Zuhause in Marzahn erinnert ihn hier viel

aus Minsk SEBASTIAN HEINZEL

Der Geruch im Eingangsbereich des Kinderheims ist erschlagend. Es riecht nach Spülmaschinendampf, gekochtem Speck und pampigem Eintopf. „Man gewöhnt sich daran“, sagt Alexander Liedtke und zuckt mit den Schultern, „am Anfang hatte ich jeden Tag Kopfschmerzen.“ Seit 11 Monaten ist das Heim im Minsker Vorort Nowinki seine Arbeitsstätte. Der Berliner leistet einen freiwilligen Friedensdienst in Belarus (Weißrussland) – als unentgeltlichen Ersatz für seinen Zivildienst in Deutschland (siehe Kasten). Alexander stolperte im Internet über verschiedene Angebote und entschied sich für die osteuropäische Hauptstadt. Eine Faszination für den Kulturraum und passive Sprachkenntnisse durch seine russische Mutter halfen ihm bei der Bewerbung. Statt Essen auf Rädern zu Hause in Marzahn auszufahren, betreut Alexander nun behinderte und krebskranke Kinder in Minsk.

Etwa 200 Kinder und Jugendliche mit verschiedenen Behinderungen sind im Kinderheim untergebracht. Alexander arbeitet in der Abteilung für stark Körperbehinderte. Slawa liegt in verkrümmter Haltung mitten auf dem Gang, als wir die Station betreten. Der Junge lächelt und versucht sich aufzurichten, als er seinen Zivi sieht. „Sascha“ nennen ihn die Kinder. Wenn sie sprechen können. Die deutschen Helfer sind beliebt bei ihren Patienten. Sie spielen, reden, beschäftigen sich mit ihnen und sollen eine therapeutische Hilfe für die fest angestellten Pflegerinnen sein.

Zu oft allerdings, meint Alexander, geben die „Sanitarkas“ lästige Aufgaben wie Waschen, Wickeln und Füttern an die deutschen Freiwilligen ab. „Ihre Hauptbeschäftigung ist Sitzen“: Alexander findet keine positiven Worte für die bezahlten Pflegekräfte, die hier ohne jede Ausbildung arbeiten. Oft in 24-Stunden-Schichten, damit sie zwei Tage am Stück freibekommen. In dem Zimmer, dem der Berliner zugeteilt ist, kümmert sich eine Pflegerin um die 14 Kinder. „Von den Sachen, die man machen könnte, wäre man mit ein bis zwei Kindern ausgelastet“, kommentiert er. Der Fernseher dauerlärmt mit einer südamerikanischen Telenovela, zwei Kinder hocken auf ihren Töpfchen, die Sanitarkas hetzen gestresst hin und her. Heute ist eine Gesundheitskontrolle angekündigt. Der geplante Spaziergang mit einigen Kindern fällt aus.

Der Bus zurück in die Stadt kostet 60 Rubel, das sind umgerechnet etwa 3 Cent. Alexander hilft einem sturzbetrunkenen jungen Mann mit Baseballkappe beim Entwerten seines Tickets. Es ist 11 Uhr morgens: „Hier gibt es einen fließenden Übergang zwischen mäßigem Alkoholkonsum und Alkoholismus“, erklärt Alexander. Fließend, im wahrsten Sinnes des Wortes, möchte man hinzufügen, wenn Alexander nicht so ernst schauen würde. Auf einem Foto im Internet (www.ziviminsk.de.vu) hat er noch lange Haare und ein volles Gesicht. Jetzt wirken seine Züge dünner, asketischer, und die Haare sind ab. Die Veränderung ist nicht rein äußerlich: „Am Anfang hat man noch die große Welt des Berliner Nachtlebens vermisst“, schwärmt der 20-Jährige, aber dann habe er gelernt „andere Akzente zu setzen“. Die Arbeit mit den Kindern steht im Vordergrund seines neuen Lebens. Die Minsker Nächte verbringt er mit Literatur statt mit Wodka. Viele Freundschaften habe er nicht aufgebaut, seine Osterweiterung gleicht einem inneren Rückzug.

Alexander spricht von „Einschränkungen“, für die er sich bewusst entschieden habe. Zu Anfang seiner Zeit veröffentlichte er noch Artikel im PDS-Magazin Disput und wollte Friedens- und Konfliktforschung studieren. Heute sagt er: „Ich habe aufgehört mich für Politik zu interessieren.“ Er möchte „persönlich und praktisch etwas verändern“. Wenn er nach Deutschland zurückkommt, möchte Alexander Medizin studieren – eine Entscheidung, die während seiner Zeit in Minsk entstanden ist. Es gelingt ihm inzwischen schwerer, den Unterschied zwischen der Lebenssituation hier in der letzten Diktatur Europas und der in Deutschland zu beschreiben: „Es gibt keine Brötchen, sondern Weißbrot“, sagt er – und dann: „Eigentlich gibt es keinen großen Unterschied, wenn man die wirtschaftliche und politische Situation ausklammert.“ Da muss er selbst lachen.

Rein optisch unterscheidet sich Minsk auch wenig von der Umgebung, wo Alexander aufgewachsen ist. Marzahn. Mit etwas Fantasie beim Blick aus dem Fenster könnte der Bus gerade auch durch den Berliner Osten fahren. Eine „schaue“ Stadt sei Minsk vor dem Zweiten Weltkrieg gewesen, glaubt Alexander. Jenseits der pompösen Alleen prägen heute Betonklötze das Stadtbild. Platte, so weit das Auge reicht. „Es ist für mich, als ob ich in einer künstlichen Stadt lebe, ohne Geschichte und Tradition – wie in einem Luftschloss.“

Ein Bild, das sich auch unter der Erde bestätigt: Die U-Bahn-Stationen sind prachtvoll ausgeleuchtete Säulenhallen, verziert mit kaltem Marmor und goldenen Typografien: Prestigeobjekte aus der Sowjetzeit. Die blaue Bahn ist restlos überfüllt. Alexander surft freihändig in der Menschenmenge: „Eins habe ich hier gelernt“, flüstert er, „fahren, ohne mich festzuhalten.“ Das klingt tiefsinnig. In sein Tagebuch schreibt er: „Man kommt nicht einmal hier an, sondern viele Male. So erweitert sich langsam der Horizont, blickt man tiefer hinein in die Gedanken der Menschen, die man tagtäglich in der Metro sieht.“

„Nächster Halt Partisanskaja“, die Ansage wirkt Angst einflößend. Partisan ist aber bloß ein Stadtteil. Alexander durchquert ihn täglich auf seinem Weg zur Arbeit. Dass es eine Bezirkspartnerschaft zwischen Berlin-Marzahn und Minsk-Partisan gibt, wusste er nicht. Ein Relikt aus alten Zeiten. Beim Spaziergang durch ein Wohngebiet finden sich Gemeinsamkeiten. Alexander bleibt grinsend an einem mintgrün verzierten Plattenbau stehen. „Das könnte auch in Marzahn sein.“

Dann versucht er das Nummerierungssystem einer Plattenbausiedlung zu erklären, redet von Korpus und Quartier. Fest steht, dass man den Adressaten nicht auf den Umschlag zu schreiben braucht, damit ein Brief ankommt. Quartiernummer genüge. Scherzhaft spricht Alexander von der „goldenen Ostzeit“. Von Anonymität sei keine Spur gewesen, der Kontakt zwischen den Bewohnern habe sich erst gelöst, als die „bösen Kapitalisten“ kamen. „In unserer Gesellschaft zieht man sich immer mehr in die Familie zurück. Hier ist das noch anders.“ Die Geselligkeit, das enge Zusammenleben der Belarussen gefällt ihm. In Minsk lebe er in einer „Art von Vergangenheit“.

Nach den Betonburgen führt der Spaziergang zu einer anderen Art von Vergangenheit: Der dauerhafte Vergnügungspark „Tscheluskinzew“ im Partisaner Stadtwald ist ein idyllischer Treffpunkt und Fotoparadies für Retro-Fetischisten. „Diskothek“ steht in kyrillischen Buchstaben über einem Gebäude, vor dem junge Mädchen Karaoke singen. In einer kleinen Arena finden Freilufttänze für Senioren statt. Es gibt Zuckerwatte und Schaschlik zu kaufen. Braune Bilderrahmen mit Fotos von Präsident Lukaschenko liegen neben Porträts von Stalin. Die Vergangenheit ist zum Greifen nah. Und die heruntergekommene „Super 8“ dreht noch ihre Runden auf den rostigen Schienen. Alexanders Gesicht ist bleich, als wir die erste Steigung hochrattern. Er fährt zum ersten Mal in seinem Leben Achterbahn.

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