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CDU: Ups, wir haben ja verloren

Befreit von Amt und Bürden schreitet Exfraktionschef Friedrich Merz zur Generalkritik seiner Partei. Doch auch Angela Merkel hält die Modernisierung des Unionsprogramms für dringlich – und spannt ihren Vorgänger Schäuble als Ideenlieferanten ein

aus Berlin PATRIK SCHWARZ

Es ist schon beeindruckend, wie eine Niederlage die Zunge lösen kann. In der CDU ist das Phänomen derzeit in seltener Deutlichkeit zu beobachten.

„Nehmen wir das Beispiel Irak: Wir hatten erkennbar keine Strategie, wie wir mit allen Eventualitäten umgehen, was wir für richtig und für falsch halten.“ „Oder nehmen wir Hartz: Es gab zunächst nur eine nicht abgestimmte Reaktion, es gab kein eigenes Konzept.“ „Beispiel Familienpolitik: Wir erreichen mit unserer im Kern ja richtigen Familienpolitik viele junge Frauen nicht mehr. Aber auch die neuen kulturellen Szenen erreichen wir nicht, es gibt dort kaum bekannte Vertreter, die sich zur Union bekennen.“

Wer noch am Samstag vor einer Woche den CDU/CSU-Fraktionschef Friedrich Merz mit diesen Aussagen konfrontiert hätte, wäre durchaus brüsk abgebürstet worden. Kein Konzept, keine Ahnung, kein Erfolg? Wir doch nicht! Seit Sonntag hat Merz gleich zwei Niederlagen hinter sich gebracht: Erst verlor die Union die Bundestagswahl, dann der Fraktionschef seinen Posten. Jetzt spricht der Abgeordnete des Wahlbezirks 148 (Hochsauerlandkreis) ganz ungezwungen – und eröffnet mit seinem großen Welt-Interview den Reigen der Selbstkritik in der Union.

„Der erste Fehler wäre, die Wahl nicht zutreffend zu analysieren“, analysiert der Mann mit dem Egg-Head-Schädel, „das war kein strategischer Sieg.“ Kanzlerkandidat Edmund Stoiber und CDU-Chefin Angela Merkel hatten noch am Montag danach gerufen: „Wir haben gewonnen!“ „Das zu behaupten war am Tag nach der Wahl taktisch richtig“, knurrt Merz, um dann zum gegenteiligen Schluss zu kommen: „Nein, die Union hat eine schwere Niederlage erlitten.“

Den Grund hat Merkels Parteivize Christian Wulff gestern bereits ausgemacht. Auf einer Veranstaltung der Adenauer-Stiftung griff der Niedersachse die gesamte Stoßrichtung des Wirtschafts- und Arbeitsmarktwahlkampfs der Union an: „Wachstum allein ist den meisten gar nicht wichtig und bedeutet ihnen nichts.“ Der CDU-Präside Hermann-Josef Arentz denkt sogar schon an die nächste Wahl – und neue Bündnispartner: In der Verkehrs-, Familien- und Umweltpolitik könnten Grüne und Union durchaus zusammenfinden. „Im CDU-Präsidium gibt es viele, die über unser Verhältnis zu den Grünen neu nachdenken“ – als Alternative zur FDP.

Vor allem Merz’ Einlassungen sind natürlich auch ein Angriff auf die CDU-Vorsitzende, die ihn soeben mit rüder Gewalt vom Chefsessel in der Fraktion verdrängte. Trotzdem stößt seine Analyse in ihrem Lager nicht auf komplette Ablehnung. „Dass wir strukturelle Defizite in der Partei haben, ist ja klar“, heißt es, die Frage sei: „Wie berühren wir das Lebensgefühl der Menschen noch?“ Merz hat, durchaus im Einklang mit Merkels Modernisierungsplänen, die Metropolen als CDU-Problemzonen ausgemacht: „In den deutschen Großstädten sind wir als politisch führende Kraft praktisch nicht mehr vorhanden.“

Impulse für die nötige Programmreform erwartet die große Vorsitzende aber weniger von Merz als von ihrem Vorgänger Wolfgang Schäuble. „In der programmatischen Arbeit ist er einer, auf den sie auch jetzt noch setzt“, sagt ein Mitarbeiter. Der Denker im CDU-Präsidium hatte schon Mitte August in einem taz-Interview den Globalisierungskritikern die Hand gereicht und das Thema nachhaltige Entwicklung für seine Partei reklamiert. Jetzt nannte Merkel selbst drei Felder, auf denen die Union sich profilieren müsse: Verbraucherschutz, Menschenrechte – und Entwicklungspolitik.

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