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Einer ist zwei Fußballer

Dank eines „Weltklasse-Chaoten“ feiert Bayer Vizekusen nicht nur einen 2:1-Erfolg gegen die Münchner Bayern, sondern wird sich wohl demnächst in Luciokusen umtaufen lassen müssen

aus Leverkusen ERIK EGGERS

Die Analyse, die Karl-Heinz Rummenigges nach der ersten Niederlage des FC Bayern München in der laufenden Bundesligasaison betrieb, sie klang nicht nur weinerlich, sie sprach auch für die Arroganz des Branchenführers gegenüber der nationalen Konkurrenz. Es nervte ihn, dass die Leverkusener bei ihrem 2:1-Sieg nicht auf schöngeistige Mittel zurückgegriffen hatten, auf das für Bayer ansonsten charakteristische Kurzpass-Spiel, sondern auf Kampf, Grätsche und Zerstörung. „Das war eine Hackerei, wie ich sie noch nie erlebt habe“, so Rummenigge über das „das schlechteste Spiel zwischen beiden Mannschaften in den letzten zehn Jahren.“ Als wäre es eines FC Bayern unwürdig, auf diese schnöde Art zu verlieren.

All das klang so, als ob die Bayern schon vorher innerlich die drei Punkte in der BayArena auf ihr Konto verbucht hatten, und tatsächlich hatten einige Details dafür gesprochen. Nicht nur, dass Bayer Leverkusen am Samstag mit dem schweren Gepäck von zuletzt vier Niederlagen auflaufen musste; auch hatten die Bayern der Heimelf nach Ansicht aller mit Michael Ballack und Zé Roberto ja das spielerische Herz weggekauft. Doch spielten diese beiden Akteure nicht den entscheidenden Part auf dem Platz. Der große Unterschied an diesem Tag spielte immer noch bei Leverkusen und hieß Lucimar Ferreira da Silva, genannt Lucio.

Wenn in der Fußballwelt tatsächlich so etwas wie ein perfektes Spiel existiert – der brasilianische Innenverteidiger hatte es an diesem Nachmittag auf den Rasen gezaubert. Dabei geriet sein wichtiges frühes Führungstor, ein Freistoßgeschoss aus 26 Metern, das Leverkusen „taktisch in die Karten spielte“ (Ottmar Hitzfeld), fast zur Randnotiz. Denn im Anschluss daran steigerte sich Lucio wahrlich in einen Rausch. Er, den immer noch eine Innenbanddehnung im Knie plagt, verlor nicht einen wichtigen Zweikampf, selbst nicht die schweren Kopfballduelle gegen Ballack, und sein Stellungsspiel ist momentan nicht anders als grandios zu bezeichnen. In Anlehnung an den Werbespruch „Ich bin zwei Öltanks“ hätte sich Lucio ohne jede Überheblichkeit ein „Ich bin zwei Fußballer“ mit einem schwarzen Edding auf die Stirn schreiben lassen können. So enorm war die von ihm ausgestrahlte physische Präsenz, dass sie fast vergessen ließ, dass Leverkusen nach dem Platzverweis für Brdaric (37.) nur noch zehn Mann auf dem Rasen besaß. Am Ende der letzten Saison ist die Mannschaft unter dem Bayer-Kreuz scherzhaft als „Vizekusen“ oder „Schmusekusen“ tituliert worden. Dieser Name greift nun nicht mehr. Von heute an muss es „Bayer Luciokusen“ heißen.

Seit Januar 2000 ist Lucio nun schon bei Bayer Leverkusen unter Vertrag, und seitdem hat er sich kontinuierlich verbessert. Schon damals zeichnete ihn eine brutale Athletik aus, und auch die seinem Ehrgeiz geschuldete, zuweilen überbordende Cholerik. Und immer noch wirkt Lucio stark beleidigt, wenn sich irgendein Gegenspieler tatsächlich erdreistet, ihm die Kugel wegzunehmen – so wie ein kleines Kind, das mit allen Mitteln sein Eis verteidigt. Was Lucio aber gelernt hat in den letzten Jahren, ist der kluge Blick für die Situation, das taktische Verständnis. Die Szenen, in denen er wie ein wilder Stier in die andere Hälfte stürmte, sie kommen nicht mehr vor. „Weltklasse-Chaot“, so hat ihn die Frankfurter Rundschau letzte Saison einmal bezeichnet. Das „Chaot“ ist fortan zu streichen. So ist er peu à peu zu dem gereift, was Leverkusen fehlt nach den Abgängen von Zé Roberto und Ballack: zu einer Führungsfigur. Sein Mitspieler Oliver Neuville zeigte sich fast irritiert darüber, dass „der jeden Zweikampf gewinnt“, Mittelfeldakteur Hanno Balitsch findet es „angenehm und beruhigend, vor einem solchen Mann zu spielen“. Und Trainer Klaus Toppmöller nannte Lucio „einen vorbildlichen Jungen, der immer mit großem Herzblut an die Sache herangeht. Lucio will immer ein Leader sein.“ Der Gerühmte verfiel indes in Bescheidenheit: Nur glücklich, das Tor geschossen zu haben, hofft er nun, „dass es wieder aufwärts geht“. Auch habe die Mannschaft „viele Leader, und ich freue mich, einer von ihnen zu sein“. Und dann kam der Satz, der sein Selbstbewusstein dokumentierte: „Ich hoffe, hier den jungen Spielern helfen zu können“. Er selbst ist im Mai 24 Jahre alt geworden.

Bayer Leverkusen: Butt - Zivkovic, Ramelow, Lucio - Ojigwe, Balitsch, Schneider (84. Vranjes), Bastürk (90. Simak, Babic - Neuville (60. Bierofka), BrdaricFC Bayern München: Kahn - Thiam (73. Feulner), Robert Kovac, Linke, Hargreaves (46. Tarnat) - Jeremies (46. Elber), Niko Kovac - Salihamidzic, Ballack, Ze Roberto - PizarroZuschauer: 22 500 (ausverkauft)Tore: 1:0 Lucio (9.), 2:0 Bierofka (63.), 2:1 Salihamidzic (88.)Gelb-Rot: Brdaric (37.) wg. Foulspiels

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