Die Frühstücksoffensive

Berliner Agenda (4): Die Union ist strukturell mehrheitsfähig – wenn sie sich ausihrer selbst verschuldeten Lagerzugehörigkeit befreit und auf die Grünen zugeht

Dass denkfreudige CDU-Politiker nach der Wahl die schwarz-grüne Karte zückten, ist evident vernünftig

Ihren Wählern steckt die Wahlnacht noch immer in den Knochen, doch die Gewählten sind schon bei Tagesanbruch davongaloppiert. Der Kandidat über alle Berge nach Bayern. Das Kompetenzteam in alle Winde zerstreut. Angela Merkel beugt sich derweil genießerisch über die Reste des Wolfratshausener Frühstücksbuffets.

Logisch ist das alles nicht. Dass Edmund Stoiber als Kanzlerkandidat die bayerischen CSU-Stimmen auf Landtagswahlniveau steigern könnte, hätte man auch glatt ohne Feldversuch geglaubt. Dass nur Baden-Württemberger und Sachsen bei dieser Südstaaten-Revolution mitreiten würden auch. Wer hat nun wen weggefrühstückt? Angela Merkel ist als Partei- und Fraktionsvorsitzende jedenfalls präsenter denn je. Edmund Stoiber bleibt maximal noch ein halbes Jahr Herausforderer im Stand-by-Betrieb, dann wird der bleierne Mantel des Kanzlerkandidaten weggesprengt und der kernige Meister Ede darin rebajuwarisiert.

Die Wähler waren aber so oder so wieder wählerischer als die Küchenchefs der Union: Statt des schwarzen Frühstücksbuffets wollten sie rot-grüne Vollpension: Leistungsgesellschaft mit sozialem Gewissen. Die Eine Welt, und bitte ohne Blutvergießen. Angela Merkel ist über das Wahlergebnis hinweggegangen, als wäre das Scheitern Edmund Stoibers das angestrebte und erreichte Wahlziel gewesen. Vielleicht war es ihr ganz persönliches. Das Problem der Union ist aber gewiss nicht der Ähhhh-Mann an der Hotelrezeption. Der ganze Laden ist für Saisongäste nicht mehr attraktiv. Und Stammgäste gibt es kaum noch irgendwo.

Die CDU – natürlich nicht die CSU – braucht deshalb zweierlei: 1. Kampagnen, die nicht in erster Linie Stammwähler in ihrer Überzeugung bestärken, sondern Wechselwähler ins Grübeln bringen. 2. Koalitionsoffenheit, die taktische Wähler die CDU ins Kalkül ziehen lässt und die der Union in multipolaren Koalitionsverhandlungen Optionen verschafft und dabei dennoch ihren inneren Zusammenhalt nicht gefährdet.

Für die Union stellt sich deshalb inhaltlich die Frage, wie sie ihren wesentlichen programmatischen Gehalt, der mal von konservativen, mal von wirtschaftsliberalen Attitüden verstellt wird, in einer Gesellschaft des 21. Jahrhunderts neu entfalten kann. Diesen Kern gilt es erst freizuschälen. Er lautet: Der Mensch ist solidarisch und auf Solidarität angewiesen. Ersteres nicht aus Eigennutz und Letzteres nicht aus Not, sondern beides, weil es sein Wesen ausmacht. Die Menschenwürde gründet sich aus seinem Wesen als individuelles Geschöpf. Damit kann man freies Unternehmertum und Leistungsgesellschaft begründen. Drohen Gleichmacherei, staatliche Gängelung und Kollektivismus, muss man das sogar. Aus diesem Menschenbild folgt aber auch die politische Förderung jeder Form von Mitmenschlichkeit, die Abscheu vor der Ökonomisierung aller Lebensbereiche, der Vorrang nachhaltiger – schöpfungsbewahrender – Entwicklung vor seelenloser Wachstumsmechanik.

Bündnis für Arbeit, ökologische Steuerreform, ökologischer Landbau, die Kodifizierung stabiler gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften, globale Menschenrechtspolitik und nachhaltige Haushaltspolitik – vieles von dem, was da schon bald in einem rot-grünen Koalitionsvertrag stehen wird, steht, stand schon im CDU-Programm, oder sollte eigentlich dort stehen.

Die Union war und wäre nämlich strukturell mehrheitsfähig. Aber wahrscheinlich hat sie nicht mehr das Personal, um das in die politisch toten Winkel der hochindividualisierten Bürgerschaft zu spiegeln. Und vielleicht hat sie auch nicht mehr die Mitgliedschaft, die die Konfrontation mit den Grundwerten der eigenen Partei erträgt. Womöglich hat die Union auch nicht mehr den Mut, ihren und anderen Wählern geistig erneuert gegenüberzutreten. Edmund Stoibers Wahlkampfrhetorik war in diesem Sinne übrigens riskanter als die bisherigen verkrampften Lockerungsübungen Angela Merkels.

In der Demokratie muss man auf 50 zählen können, predigt etwa Erwin Teufel. Davon ist die Union weit entfernt, und alle anderen Parteien mindestens ebenso. Das erzieht, wenn schon nicht zur Reflexion, dann doch zum Pragmatismus. Vor allem sollte es zur Koalitionsoffenheit erziehen. Die Union leistet sich den Luxus, im Namen der Geschlossenheit ihre Unfähigkeit zu Mehrheiten zu pflegen und dann auch noch wählerisch im Umgang mit anderen Parteien zu sein.

Am Wahlabend ließen Patt-Prognosen nur an wenigen Momenten darauf hoffen, dass schiere mathematische Unausweichlichkeit Union und Grüne dazu zwingt, auf ihre Schnittmenge zu schielen. Dafür gibt es gewiss nicht nur arithmetische Gründe. Dass einige denkfreudige CDU-Politiker nach der Wahl die schwarz-grüne Karte zückten, ist kein taktisches Geplänkel, sondern evident vernünftig. Noch werden die Grünen behäbig abwinken: Wir sind nicht die Reparaturwerkstatt der Christdemokraten. Einverstanden. Und die CDU fällt ohnehin beim lauten Aussprechen des G-Tabus reflexartig in den Lager-Autismus zurück. Um diesen Reflex zu überwinden, müsste die Union dabei nur Grundwerte wiederentdecken, an die Christdemokraten schon im 19. Jahrhundert glaubten und in deren Sinne Aldo Moro, Erhard Busek, Heiner Geißler und Romano Prodi wirkten und wirken. Weil wir schon Namen aufzählten: In der Telekratie folgen die Koalitionen den Personen und deren Positionen.

Womöglich hat die Union nicht mehr den Mut, ihren Wählern geistig erneuertgegenüberzutreten

Ich habe im Wahlkampf mit niemandem diskutiert – in Nord- und Süddeutschland –, der nach einer Stunde noch die Plausibilität einer schwarz-grünen Koalition in Zweifel gezogen hätte. Ich glaube an die Unausweichlichkeit dieser Koalition und auch an die Unbesiegbarkeit dieser Koalition nach vier und nach acht Jahren. Weiter kann man wohl heutzutage nicht mehr denken. Eine solche Konstellation könnte den Grünen Wahlergebnisse von 15 Prozent ermöglichen und der Union 45 Prozent. Weder die europäische Parteienlandschaft bliebe davon unbeeinflusst noch der Prozess der Globalisierung. Denn mit solchen nationalen Mehrheiten ließe sich Globalisierung gestalten.

Ach ja, das Ganze funktioniert vor dem Hintergrund des von der Union – zuletzt mit ihrer hirnlosen Anti-68-Debatte – idiotischerweise erzwungenen Rot-Grün-Automatismus nur unter einer Maxime: A little less conservation, a little more conversation: Rezzo Schlauch frühstückt mit Peter Müller, Joachim Gauck mit Arnold Vaatz, Renate Künast mit Annette Widmann-Mauz, Joschka Fischer mit Hans-Peter Repnik, Attac mit Kardinal Lehmann, Christine Scheel und Oswald Metzger mit Friedrich Merz und Joachim Pfeiffer, Antje Vollmer mit Annette Schavan, Michel Friedman mit Daniel Cohn-Bendit – und Angela Merkel? Angela Merkel wird auch weiter frühstücken müssen. Schwarzbrot und Müsli. Obstsalat und Kaffee schwarz.

MARKUS SCHUBERT