: Bilder und Namen in Hülle und Fülle
Auf der Suche nach Carrie Mae Weems: Im Museumskatalog findet sich ein Bild, im Lexikon eine Leerstelle, aber in einem kuratorisch entstandenen Kompendium aktueller Fotografie gibt es schließlich die gesuchten Informationen zur Künstlerin
von BRIGITTE WERNEBURG
Gerade mal seit zehn Jahren sammelt das Whitney Museum of American Art Fotografie. Das erstaunt. Nicht nur weil private und institutionelle Sammler das Medium meist schon in den 80er-Jahren als Objekt ihrer Begierde entdeckten. Es erstaunt vor allem deshalb, weil das Programm des Whitney Museum seit seiner Eröffnung am 16. November 1931 dezidiert in der Förderung, Präsentation und Sammlung amerikanischer Gegenwartskunst bestand. Es liegt also nahe anzunehmen, dass spätestens ab den 60er-Jahren, als Künstler wie Andy Warhol, Robert Rauschenberg, Ed Ruscha oder John Baldessari mit Fotografie zu arbeiten begannen, dieser Aspekt ihres Werks ebenfalls Aufnahme in die Sammlung des Whitney gefunden hätte. Doch das war nur sehr vereinzelt der Fall. Erstmals 1973 kaufte das Museum anlässlich einer Bruce-Nauman-Ausstellung auch elf Farbfotografien des Künstlers. Es war das Jahr, in dem die „Whitney Biennial Exhibition of American Painting“ in „Whitney Biennial Exhibition of Contemporary American Art“ umbenannt wurde – Fotografien waren auf der Biennial dennoch nicht zu sehen. Erst 1977 fand sie mit Arbeiten von John Baldessari, Lewis Baltz, Robert Cumming und Duane Michals Eingang in den Marcel-Breuer-Bau an der Madison Avenue. Als der Anteil fotografischer Arbeiten bei den Biennials stetig stieg, formte sich 1992 endlich ein Komitee, das sich ausschließlich dem Erwerb von Fotografien widmete. Das Whitney besaß damals gerade mal 50 fotografische Arbeiten.
Heute, zehn Jahre später, sind es immerhin schon rund 2.000 Objekte. Bis Ende September feierte das Museum diese erste Dekade seiner fotografischen Sammlung mit der Jubliläumsausstellung „Visions from America. Photographs from the Whitney Museum of American Art 1940–2001“. Wie der Titel besagt, wurde auch ein Stück zurückgesammelt und Bilder von Louis Faurer, William Klein, Diane Arbus, Helen Levitt und Lisette Model erworben wie auch Arbeiten von Ilse Bing, Harold Eggerton, Andreas Feininger und Weegee. Der schön gemachte, kompakte Ausstellungskatalog, der beim Prestel Verlag erschien und 160 Arbeiten von 158 Künstlern zeigt, kann als eine Art Kompendium der US-amerikanischen Fotografie gelten – freilich nur für Kenner. Denn außer der Abbildung einer Arbeit, die jedem Künstler zugestanden wird und deren Entstehungsdatum, Maße und Erwerb durch das Whitney genau dokumentiert sind, gibt es keine weiteren Angaben zu den Künstlern und ihrem Werk. Der intelligente, komprimierte Überblick des Kritikers Andy Grundberg über die Veränderung der zeitgenössischen Kunst im Zusammenspiel mit der Fotografie hilft im Einzelfall, wenn man zum Beispiel Genaueres zu Carrie Mae Weems erfahren möchte, naturgemäß nicht weiter.
Der interessierte Leser wird also im Zweifelsfall auf eine andere Neuerscheinung des Verlags zurückgreifen: das „Prestel-Lexikon der Fotografen. Von den Anfängen 1839 bis zur Gegenwart“, herausgegeben von Reinhold Mißelbeck, dem Kurator der Fotosammlung am Kölner Museum Ludwig, der letztes Jahr verstarb. Über 800 der international wichtigsten Namen der Fotografie des 19. und 20. Jahrhunderts sind in diesem Lexikon versammelt. Carrie Mae Weems freilich ist nicht zu finden. Ebenso wenig wie Louis Faurer, der Ende der 40er-Jahre in New York ein Atelier mit Robert Frank teilte und zu den wichtigen Vertretern der Street Photography zählt.
Doch diese Leerstellen, so bedauerlich sie sind, müssen nicht gegen das Unternehmen sprechen. Dafür spricht jedenfalls, dass es die problematische Trennung zwischen reinen Fotografen und Künstlern, die mit Fotografie arbeiten, hier nicht gibt. Fischli & Weiss sind ebenso verzeichnet wie Hans-Peter Feldmann, der in anderen Fotografen-Lexika oft genug fehlt, obwohl sein konzeptuelles künstlerisches Werk auf der Arbeit mit Fotografien basiert. Neben den in der notwendigen Kürze gelieferten üblichen bio- und bibliografischen Angaben versucht das Lexikon auch den Charakter des jeweiligen Werks zu skizzieren. Dazu kommt ein gut durchdachtes Glossar und im Anfangsteil sechzehn ganzseitige Farbtafeln, ein Angebot zur Güte sozusagen, denn sonst sind die Abbildungen schwarzweiß, was bei den Fotografen, die dezidiert mit Farbe arbeiten, natürlich problematisch ist.
Was nun Carrie Mae Weems angeht, wird man in einem anderen Kompendium fündig. „Blink“ ist der letzte in einer ambitionierten Reihe von Bänden des Phaidon Verlags, die einen Überblick über die zeitgenössischen Kunst geben möchten – und es ist der Erste, der der Fotografie gewidmet ist. Das Editionsprinzip von „Blink“ ist mit dem der Kunstbände „Cream“ (1998) und „Fresh Cream“ (2000) identisch: Je zehn Kuratoren wählen zehn Künstler aus, deren Arbeiten sie vorstellen, wobei diese Arbeiten möglichst in den letzten vier Jahren Aufmerksamkeit erregt haben sollen. Weil Phaidon klugerweise als Kuratoren nicht die prestigeträchtigen, mit den großen Institutionen in Kunst und Fotografie verbundenen Namen heranzog, zeigt der Band eine erfrischend breite, unorthodoxe Auswahl. Gleichzeitig stammt das internationale Team aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen: Paul Wombell ist der Direktor der Photographer’s Gallery in London, Christine Frisinghelli, Mitbegründerin und Herausgeberin von Camera Austria, Simon Njamai, Mitbegründer und Chefredakteur der Revue Noir, einer in Paris herausgegebenen Zeitschrift für zeitgenössische Kunst und Literatur in Afrika, Marcello Brodsky, Präsident von Latin Stock, einem Netzwerk von Agenturen, die Fotografen aus Lateinamerika und Spanien vertreten, und Dennis Freedman, Creativ Director der US-amerikanischen Modemagazine W und Details, um nur die Hälfte der Crew zu nennen.
Entsprechend ist ihre Auswahl oft überraschend, durchaus idiosynkratisch, doch immer engagiert. Ihren Zugriff entkommt kein Erdteil und keine Gebrauchsweise der Fotografie. Fotojournalismus, Dokumentarismus oder Modefotografie sind ebenso vertreten wie inszenierte und konzeptuelle Fotokunst. Neben international bekannten Namen wie Rineke Dijkstra oder Philip-Lorca Dicorcia finden sich Künstler und Fotografen, die eher national bekannt sind, wie etwa Gosbert Adler in Deutschland. Neben dem offensichtlich entdeckenswerten Werk des 1946 in Oxford geborenen, heute in Berlin lebenden Fotografen Akinbode Akinbiyi, der mit dokumentarischen Lagos-Aufnahmen vertreten ist, findet sich auch mal surrealistisches Fotodesign von Chema Madoz, das man nicht unbedingt kennen zu lernen brauchte. Doch je öfter man die 440 Seiten durchblättert, desto mehr überzeugt die Zusammenstellung, die eine Art Biennale der Fotografie ergibt, wie sie in einer Ausstellung schwerlich gewagt würde.
Jedem der alphabetisch aufgeführten Künstler stehen zwei Doppelseiten zur Verfügung – Platz genug, um einen Eindruck vom Werk zu erhalten beziehungsweise eine signifikante Arbeit, ob schwarzweiß oder in Farbe, vorzustellen. Auf der ersten Seite ist neben den Reproduktionen ein kurzer Text des Kurators, der seine Einladung vorstellt. Auf der zweiten Doppelseite folgen die bio- und biobliografischen Daten. Am Ende des schweren Bandes bekommt jeder Kurator noch einmal Raum, seine Auswahl zu begründen und einen Autor seiner Wahl mit einem aktuellen Text zur Fotografie vorzustellen. Dennis Freedman etwa hat einen Artikel der indischen Schriftstellerin Arundhati Roy besorgt, die zuletzt mit ihren Artikeln zum 11. September für Aufsehen sorgte.
Es ist im Übrigen Christine Frisinghelli, die Carrie Mae Weems (1953 in Portland, USA, geboren) mit „The Jefferson Suite“ (1999) vorstellt. Die Arbeit zeigt vier Personen – drei schwarze und eine weiße – in der Rückenansicht, wobei sich die je mit einem Buchstaben markierten Rücken zu den berühmten Basenpaaren ATCG ordnen. Die Fotografien sind Teil einer Ton-Bild-Installation, die die Entwicklung der Genforschung nachzeichnet und ihre sozialen und politischen Implikationen zur Diskussion stellt. Der Titel bezieht sich auf den gentechnisch erbrachten Nachweis der Verwandtschaft der Nachkommen des dritten Präsidenten der USA, Thomas Jefferson, mit den Nachfahren seiner Sklavin Sally Hemings, die demnach seine Geliebte war. Carrie Mae Weems nutzt die Fotografie zwar gerne in ihrer klassischen Form, baut aber gleichzeitig Realobjekte wie zum Beispiel Haare in ihre konzeptuellen Installationen mit ein und verstärkt damit die Spur der alltäglichen Wirklichkeit, auf der ihr Werk aufsetzt.
Carrie Mae Weems gehört zu den Pionieren eines künstlerischen Verfahrens, das mit Identitätspolitik verbunden ist, wobei die Künstler und Künstlerinnen im Sinne einer Minderheiten- und Emanzipationspolitik ihre eigene Identität zum Gegenstand ihres Werks machen. Die Rassenpolitik verbindet sich bei Weems mit einer feministischen Position, wie die hoch ironische Arbeit „Not Manet’s Type“ verdeutlicht, in der sich der Ärger der schwarzen Frau, nie als Malermodell für die Heroen der klassischen Moderne in Frage gekommen zu sein, mit dem Ärger der Frau kreuzt, immer nur dafür, für mehr aber nicht herhalten zu dürfen.
Am Ende ist die schwarze Künstlerin in der glückliche Lage, eben ein ganz eigenes Modell zu verkörpern.
„Visions from America“. Photographs from the Whitney Museum of American Art 1940–2001. Amerikanische Originalausgabe. Prestel Verlag, München 2002, 85 Farb- und 134 Schwarzweißabbildungen, 208 Seiten, 45,00 $ Reinhold Mißelbeck (Herausgeber): „Prestel-Lexikon der Fotografen. Von den Anfängen 1839 bis zur Gegenwart“. Prestel Verlag, München 2002, 300 Schwarzweißabbildungen, 287 Seiten, 59,00 €Ľ„Blink. 100 photographers, 010 curators, 010 writers“. Englische Originalausgabe. Phaidon Verlag, Berlin 2002. 80 Farbfotografien, 320 Schwarzweißfotografien, 440 Seiten, 69,95 €
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen