Unzufriedene Letten gehen wählen

Bei den Parlamentswahlen am Samstag stehen die Korruption und die Haltung zur EU im Mittelpunkt. Die Regierungspartei glaubte sich siegessicher, könnte jetzt aber an der Fünfprozenthürde scheitern

STOCKHOLM taz ■ Lettlands Ministerpräsident Andris Berzins hat ein Kunststück geschafft. Seit zweieinhalb Jahren ist er im Amt – so lange hat es noch keiner seiner Vorgänger geschafft. Wenn die LettInnen am Samstag wählen, müsste dieser Rekord eigentlich ein sicheres Indiz für eine Fortsetzung der Regierung seiner „Lettlands Weg“-Partei sein. Das dachte sich auch der Ministerpräsident: „Zum Wahlkampf habe ich keine Zeit. Ich muss regieren.“ Und nun braucht „Lettlands Weg“ viel Glück, sollte die Partei, die alle zehn Mitte-rechts-Koalitionsregierungen seit der ersten freien Parlamentswahl 1993 geprägt hat, überhaupt die 5-Prozent-Klausel überspringen.

„Die Wähler wollen mal ein neues Gesicht sehen“, erklärt Daunis Auers, Politikwissenschaftler an der Universität Riga, diesen unerwarteten Einbruch. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. An der Schwelle zu einer EU-Mitgliedschaft fällt die Bilanz nicht allzu positiv aus. 2001 wurde Lettland zwar sogar Europameister im BNP-Wachstum. Doch pro Kopf der Bevölkerung (BIP) liegt Lettland mit nicht einmal 30 Prozent des EU-Durchschnitts-BIP am Ende aller Beitrittsländer.

Gerade 159 Lats (269 Euro) beträgt der Durchschnittslohn, die Durchschnittsrente beträgt nur 58 Lats und die Arbeitslosigkeit liegt bei 10 Prozent. Hinzu kommt, dass es das Land auf der jährlichen Liste der korruptesten Staaten der „Transparency International“ in die europäische Spitzengruppe schaffte.

Die Korruption und den Machtmissbrauch bezeichnet Brüssel in seinem letzten Statusrapport über die Aufnahmeländer als eines der ernstesten Probleme Lettlands. In einer Umfrage sieht eine deutliche Mehrheit der LettInnen ihr Land als „sehr korrupt“. Kein Wunder, dass die Wahlumfragen von einer neuen Partei angeführt werden, die den Kampf gegen die Korruption als Hauptaufgabe sieht. Sie nennt sich „Die neue Zeit“ und wird von dem 39-jährigen Ex-Zentralbankchef Einars Repse geführt. 16 Prozent wollen ihn Umfragen zufolge wählen.

Annähernd so viel Zulauf bekommt von den 20 antretenden Parteien nur noch die rechte „Volkspartei“, bisheriger Koalitionspartner von „Lettlands Weg“. Die dritte im Koalitionsbund, die nationalistische „Vaterland und Freiheit“, muss auch gegen die 5-Prozent-Hürde ankämpfen. Deren zunehmend skeptischere Haltung zur EU vertritt die neu gegründete Union „Die Grünen/Bauernpartei“ nun offenbar glaubwürdiger. Mit ihrem Slogan „Eine ehrliche Wahl für ein grünes Land“ trifft sie doppelt ins Schwarze: gegen die Korruption und einen nach ihrer Einschätzung vor allem für die Landwirtschaft verhängnisvollen EU-Beitritt. Lettland drohe zum „permanenten Niedriglohnparadies und Armenhaus“ der EU zu werden, so die Parteivorsitzende Ingrida Udre. Knapp 10 Prozent wollen den Grünen ihre Stimme geben, die damit etwa gleich stark würden wie die Linksallianz „Für Menschenrechte und ein vereintes Lettland“, die auch die Interessen der russischen Minderheit vertritt. Nur 46 Prozent der LettInnen wollen für einen EU-Beitritt stimmen.

Auf die EU hofft aber ein hoher Anteil der russischen Minderheit, die etwa ein Drittel der lettischen Bevölkerung stellt. Im unabhängigen Lettland sind sie angesichts alltäglicher Diskriminierung und einem Staatsbürgerschaftsrecht, das die meisten zu BürgerInnen zweiter Klasse gemacht hat, nie richtig angekommen. Von der EU erwarten sie nicht nur gleiche Staatsbürgerrechte, sondern hoffen auch auf die Möglichkeiten des offenen Arbeitsmarktes gen Westen.

Grund für die ultranationalistischen und rassistischen Gruppen, den schärfsten Anti-EU-Kurs zu fahren. Die einflussreichste, „Lettlands Nationale Front“, die den Sprung ins Parlament schaffen kann, führt Aivars Garda, der gleich die „eine Million russischer Kolonisatoren“ nach Hause schicken will. Nicht nur die drohende Gleichstellung der „Besatzer“ stört Garda an der EU. Es sei die „moralische Dekadenz Europas“ insgesamt. Vor allem mit der Homosexualität hat Garda Probleme: „Wenn ein Schwuler Bürgermeister von Berlin werden kann, hat Lettland in so einer EU nichts verloren.“

Diese Sprüche kommen an. Als Garda kürzlich einen Essaywettbewerb ausschrieb für die beste Begründung für sein „Lettland ohne Homosexualität“, beteiligten sich auch der protestantische Erzbischof Janis Vanags und sein katholischer Amtskollege Janis Pujats. Eines von Aivars Gardas antirussischen Machwerken – „Alle Russen sind Parasiten“ – schaffte es sogar monatelang an die Spitze der Bestsellerliste. REINHARD WOLFF