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Radeln im Minutentakt

Seit zwei Monaten gilt das Call-a-bike-Prinzip auf Berliner Straßen. „Kann das gut gehen?“, fragtsich so mancher Passant. „Es geht gut“, sagt die Bahn. Und wenn nicht, gibt es Stefan Zahnow

von ANETT KELLER

10 Uhr, Bahnhof Zoo. Zwei Ehepaare aus Polen beäugen Nummer 0434. Die Frauen postieren sich vor dem rot-silbernen Fahrrad im Dienste der Deutschen Bahn, die Männer knipsen. So ein schönes Motiv – die Gedächtniskirche im Hintergrund. Nummer 0434 gerät zufällig mit ins Bild. Es ist ohnehin zum stillen Verharren am Zoo verurteilt, das rote Blinken verrät, das Rad ist ausgeliehen. So dient es als Anschauungsobjekt für Vorbeieilende.

„Ach – endlich sehe ich mal eins“, freut sich Renate Finnigan. „Ich begrüße das sehr, gerade in einer fremden Stadt, wenn man das eigene Rad nicht dabei hat“, sagt die aus Hamburg Zugezogene. Anmelden per Kreditkarte? „Das ist schade! Tendenziell sind doch Kreditkartennutzer eher weniger unter Radfahrern zu finden, oder?“ Finnigan hat eine pragmatische Lösung: Warum nicht Münzen in diesen kleinen Kasten am Hinterrad werfen?“

Dieser kleine Kasten ist das Herzstück des Fahrrads. Er beherbergt den Display, über den der Öffnungscode für das Fahrradschloss eingegeben werden muss. Blinkt es grün, ist das Fahrrad frei. Vorher muss der willige Nutzer die Servicenummer anrufen, die er auf dem Fahrradrahmen findet (siehe Kasten).

15 Euro Startguthaben sind einzuzahlen, von denen wird der Minutenpreis von drei bis fünf Cent abgezogen. Kreditkartenbesitzer können sich das Rad sofort freischalten lassen. Bankeinzügler dürfen sich eine Woche in Vorfreude üben. Sofern er nicht an eine der fünf Fahrradstationen geht, mit denen die Bahn kooperiert und wo gegen Vorlage des Personalausweises auch ein direktes Freischalten möglich ist. Will der Nutzer das geliehene Rad wieder abgeben, greift er wieder zum Telefon, gibt seinen Standort durch und meldet sich über das Display wieder ab.

Abstellen darf er das Rad quasi überall, je weiter es jedoch weg von den gängigen Kreuzungen innerhalb des Berliner S-Bahn-Ringes ist, desto höher schlägt die „gesonderte Aufwandsentschädigung“ der Bahn zu Buche . Keine Rolle spielten derart drakonische Strafen offenbar bei einem japanischen Kamerateam. Die testeten die Räder für einen Fernsehbeitrag und ließen sie dann einfach in Potsdam stehen.

Endet ein Rad in der Peripherie oder aber demoliert im Zentrum, ist Stefan Zahnow gefragt. Der 31-Jährige ist einer von neun Bike-Service-Monteuren, die für die Wartung der insgesamt 2.000 Räder zuständig sind. 1.300 davon sind ständig auf der Straße. Vor der Reparatur steht aber meist das Einsammeln der „Patienten“. Deshalb fährt „Fahrraddoktor“ Zahnow einen Kleinbus, in den 15 Fahhrräder passen.

Seine Tour beginnt heute in Kreuzberg. Zehn Aufträge hat er auf seine gelbe Klemmmappe gespannt, „nicht viel heute“, sagt Zahnow. Der Vandalismus, den die nigelnagelneuen Räder anzogen, lasse langsam nach.

Erste Station. An der Ecke Pückler-/Wrangelstraße steht Nummer 2026. Es hat einen Platten, die Vorderlampe ist abgebrochen, und obendrein wurde es noch mit einem „Smash Capitalism“-Aufkleber versehen. Ein Fall für die Werkstatt, 2026 wird im Bus vertäut, und weiter geht’s.

An der Ecke Reichenberger/Liegnitzer Straße gesellt sich 2618 zu 2026. Beim Einladen wird Zahnow von einem Vorbeiradelnden angesprochen, der sich gern als Monteur bewerben würde. „Alles voll“, enttäuscht Zahnow aber sogleich jede Hoffnung. Freut er sich eigentlich insgeheim über jeden kaputten Reifen, jeden aufgeschlitzten Sattel, der ihm seinen Job sichert? „Ich mach mir keine Sorgen um meinen Arbeitsplatz“, sagt der Monteur gelassen. Sein Team habe mit der Wartung wirklich genug zu tun.

Am Kotti werden zwei Räder gerettet, die gar nicht auf der Auftragsliste stehen, 2691 und 2258. Um die Schlösser zu öffnen, muss Zahnow genau so im Call-Center anrufen wie jeder Kunde, einen Generalcode gibt es nicht. Dann am Planufer noch ein Platten. 3027 gesellt sich zu den anderen ins Wageninnere.

„Jetzt suchen wir ein unbekanntes Fahrrad“, beschreibt Zahnow den nächsten Punkt auf dem Klemmbrett. Es passiere häufiger, dass Passanten anriefen, die den Standort eines demolierten Rades durchgäben, sagt Zahnow, nicht aber dessen Nummer. Das namenlose Rad zeigt sich nicht, Zahnow umrundet die Kreuzung am Halleschen Tor, späht detektivisch ins Gebüsch. Nur ein verrotteter Fahrradrahmen hängt noch angeschlossen am Brückengeländer. Definitiv kein Call-a-bike-Überrest.

Das Fahrrad ist ein Unikat, extra hergestellt für die Deutsche Bahn. Der rote Rahmen sei auffällig genug, um eventuellen Diebstählen vorzubeugen, da ist DB-Pressesprecher Andreas Fuhrmann ganz sicher. Und warum sollten sich potenzielle Diebe auch die Mühe machen, das komplizierte Zahlenschloss zu knacken, wenn überall in der Stadt weniger gut gesicherte Räder herumstehen. „Nein“, sagt Fuhrmann, über gestohlene Räder müsste man bislang noch nicht klagen.

Auch wenn nicht alle Räder mit einem Peilsender versehen sind, ist ein Verschwinden relativ unwahrscheinlich. Der Nutzer hat bei Abgabe telefonisch den Standort durchzugeben. Stimmt der nicht oder ist das Rad kaputt, fällt das zwar nicht sofort auf, aber spätestens beim nächsten potenziellen Kundenanruf. Aufmerksame Passanten nicht zu vergessen. Oft sind sie es, die die Bahn alarmieren. So ein verbeultes Fahrgestell am Brückengeländer sieht schließlich nicht schmuck aus.

„Es gibt noch gute Menschen“, freut sich Monteur Zahnow auch jetzt wieder, beim Stopp in Schöneberg. Ein Anrufer hatte ihn auf ein nicht angeschlossenes Rad in der Akazienstraße aufmerksam gemacht. Nummer 2648 hat ein kaputtes Schloss. Ab damit ins Auto. In der nahen Freisinger Straße gesellt sich Nummer 2908 dazu. Es leidet an einem zerdellten Schutzblech. Zahnow würde es aber auch ohne Befund mitnehmen, sagt er. Räder von unspektakulären Ecken wieder in den Trubel belebter Straßen zu bringen – auch das gehört zu seinem Job. Und „die Freisinger Straße“ sagt Zahnow, „ist ein ganz schlechter Standort“. Vielleicht doch nicht. Gerade als Zahnow das Rad im Wagen fest macht, kommt ein Mann vorbei, Blaumann, Kaffeebecher. Wie das denn nun funktioniere mit „diesen Rädern“. Zahnow erklärt geduldig. Einen Stapel „Call-bike-Flyer“ hat er immer mit im Auto.

Nach drei Stunden hat Zahnow zehn Räder eingesammelt und fährt heimwärts, sprich in die Werkstatt an den Moabiter Stadtbahnbögen. In spätestens zwei Tagen werden sie wieder einsatzfähig sein. Nummer 1182, das traurig am Geländer vor der Jannowitzbrücke hängt, ist dieses Schicksal nicht vergönnt. Der aufgeschlitzte Sattel zeigt sein gelhaltiges Innenleben, die Reifen sind zerschnitten, der Lenkerschutz zerfetzt, die Lampe hat sich wahrscheinlich einem Fußtritt gebeugt. Stefan Zahnow schüttelt den Kopf und hebt den komatösen Patienten ins Auto: „Das wird ein Ersatzteilspender.“

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