From Est to Lett to Lit

Litauen – das Land der Roadmovies und Kung-Fu-Filme und der „TransBalticExperience“

Die Bedienung der Videokamera erklärte ihnen ein Ringer aus Grönland durch Zeichensprache

Als ich schon gehen will, rieche ich, dass er doch noch zu unserer Verabredung erscheint – der Experimentalfilmer Mirzo Banauskas, ein veritabler Litauer, dessen Autobiografie „Blutzucker“ jetzt in schlechter österreichischer Übersetzung vorliegt.

Seine Lebensgeschichte liest sich denn auch wie ein übler Scherz: Mirzo kam als Sohn armer Kapernpflücker auf die Welt und lief den Eltern schon im Alter von sechs Jahren davon. Auf einem Fuhrwerk erreichte er die durch Waltran-Kraftwerke ewig versmogte litauische Hauptstadt Oslo, wo ihn die Fänger eines staatlichen Kinderheims aufgriffen und für sechzehn Jahre der Welt entzogen. Diese dunkelste Zeit in seinem Leben verbrachte er mit Zuckerschnitzen, was ein in Litauen beliebtes Mittel ist, um aufmüpfige Kinder für das restliche Leben mundtot zu machen. Erst mit zweiundzwanzig Jahren verließ er die Bewahranstalt, in Wort und Tat hartnäckig einem Sechsjährigen gleichend, indes bilderhungrig und lebensgierig.

Nach kurzer, aber prägender Beschäftigung als Köpfer im Zentralschlachthof der Metropole gelangte er 1999 unversehens an einen größeren Posten Videokameras und -kassetten. Es war übrigens dasselbe Jahr, in dem Oslo, jenes schwarze Loch inmitten Litauens, eine ganze japanische Reisegruppe verschluckte und nie wieder hergab. Damals, so erklärt Mirzo, hätten er und seine Schlachterkollegen Mikka Banauskis und Mimikriji Banauskos erst nicht recht begriffen, was diese Kameras eigentlich für Dinger waren, bis ein Passant es ihnen durch Zeichensprache erklärte. Dieser Jemand war kein anderer als Sumo Kala, ein in den Sechzigerjahren weltberühmter Ringer aus Grönland, der nach dieser schicksalhaften Begegnung bis zu seinem frühen Tod im Juli diesen Jahres Inspirator und heimliches geistiges Oberhaupt der Künstlergruppe „TransBalticExperience“ geblieben ist, woran allerdings auch Mimikriji Banauskos nicht ganz unschuldig war, die sich unsterblich in den Riesen verliebte.

Bereits in ihren ersten Filmen war alles vorhanden, was die „TransBalticExperience“-Filme so unverwechselbar macht: Szenen aus japanischen Reisebussen, deutschen Bordellen und vom Münchner Oktoberfest, die assemblageartig in die blutige Zerteilung von Litauer Ochsen und Schafen eingeschnitten sind. In Kaschemmen an der litauischen Grenze führte die vierköpfige Truppe diese makabren Filmchen für ein paar Flaschen selbst gekelterten Kartoffelwein vor, während Sumo Kala gegen Lokalmatadore antrat. Sie wohnten derweil in einem umgebauten, blutigrot lackierten japanischen Reisebus, der sich von den legendären grubenartigen Schlaglöchern der litauischen Agrarwege zerdellt zeigte.

Bei einer dieser dörflichen Filmpräsentationen war ein Funktionär des Staatssenders LiTV anwesend und drückte den Filmern, schon gestrichen voll mit Potaa Negra, dem besten Kartoffelwein Litauens, einen Generalvertrag auf Lebenszeit in die Hände, der bei nüchterner Betrachtung niemals hätte ratifiziert werden dürfen. Mirzo Banauskas erhält seither Ausfallhonorare in Millionenhöhe, was ihn zur Verwirklichung jenes sechsstündigen Films befähigte, für den er überschwänglich und völlig zu Recht in Cannes gefeiert worden ist: „From Est to Lett to Lit – ein Landschaftskrimi mit Kung-Fu-Elementen“. Auf den ersten Blick zeigt sich auch in diesem „Opus“ nur die bewährte Mischung aus Blut und Tourismus, die der frenetischen Kritik als Sinnbild des baltischen Dramas gilt; dann aber werden Kung-Fu-Szenen alter Bruce-Lee-Streifen eingestreut, von Suo Kala und Einheimischen aus litauischen Grenzdörfern plump nachgestellt.

Am letzten Drehtag, dem 13. Juli 2002, geschah das Unfassbare, was diesem Film eine für zivilisierte Mitteleuropäer so fatale Note gibt: Suo Kala, jener Ochse von einem Mann, geriet in Streit mit einem estländischen Grenzer, der ihn daraufhin in Notwehr erschoss, eine unschöne Szene, die Mirzo Banauskas kaltblütig auf Band festhielt. Die todsicher zutreffende Vermutung, Mirzo habe Sumo mit Kartoffelwein betrunken gemacht und zum Angriff auf den kleinen, aber schwer bewaffneten Grenzer animiert, ist leider der kulthaften Popularität des kruden Machwerks und seines Schöpfers nicht abträglich gewesen – im Gegenteil! Der Film wurde in Oslo ein Kassenschlager.

„From Est to Lett to Lit“ ist der zurzeit letzte Film von Mirzo Banauskas, und man wird sehen, ob die „TransBalticExperience“ ohne Sumo Kala jemals noch etwas Nennenswertes hervorbringen kann. Möge Kalas Tod einen Schlussstrich unter eine Fußnote der Filmgeschichte ziehen, der man – auch im Interesse des Projekts Weltethos – schlechterdings keine Wiederauferstehung wünscht. TOM WOLF