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„Wirklichkeit entsteht im Dialog“

Zum Tode eines großen Dialogikers: Ein letztes Gespräch mit dem Physiker, Mathematiker und Theoretiker Heinz von Foerster über die Karriere des Konstruktivismus, Möbius-Schleifen des Denkens sowie Etiketten, die echten Gedankenaustausch stören

Interview BERNHARD PÖRKSEN

taz: Sie gelten als einer der Gründerväter des Konstruktivismus – einer Denkschule, die um die Frage ringt, wie wir Wirklichkeit erzeugen und Weltbilder konstruieren. Inzwischen ist diese Philosophie an den Universitäten zur regelrechten Mode geworden. Haben Sie jemals mit diesem durchschlagenden Erfolg Ihrer Ideen gerechnet?

Von Foerster: Ich hatte ja keine Ahnung davon. Und da ich tausende von Meilen entfernt von Europa an der amerikanischen Westküste auf dem Rattlesnake Hill lebe, habe ich diesen ganzen Zirkus auch gar nicht so direkt mitbekommen.

Heute würde ich den Begriff Konstruktivismus, ehrlich gesagt, eigentlich gerne wieder loswerden. Mich stört das gesamte Vokabular gegenwärtiger Debatten, diese Fixierung auf ein Label und ein Etikett, das man irgendwem anheften kann.

In Europa ist, warum auch immer, die Klassifizierung des anderen stets ein entscheidender Schritt der Annäherung. Man liebt es, dem Gegenüber einen Zettel umzuhängen – und ihn dann als Konstruktivist, Dekonstruktivist oder Postmodernist und als einen gefährlichen Narren zu attackieren, der leider die moderne Physik einfach nicht richtig kapiert. Das ist in den USA glücklicherweise etwas anders.

Aber haben derartige Begriffe und Bestimmungen der eigenen und der fremden Position nicht auch ihren guten Sinn? Sie erlauben die schnelle Verständigung und die rasche Orientierung der Eingeweihten.

Das Problem ist: In dem Augenblick, in dem irgendein Ismus entsteht und Mode wird, werden alle Beteiligten – Befürworter und Gegner – zu Gefangenen eines semantischen Netzes: Das wechselseitige Zuhören hat ein Ende, Missverständnisse tauchen auf – und die Beschimpfung und Verunglimpfung der anderen Seite beginnt.

Aus diesem Grund versuche ich, derartige Etikettierungen so gut es irgendwie geht zu vermeiden. Wenn mich jemand fragt: Sind Sie ein Konstruktivist, dann frage ich, um überhaupt einen Zugang zu seiner Welt zu bekommen, immer zurück: Was ist das? Was meinen Sie?

Er wird irgendetwas antworten, ich werde wieder etwas sagen – und auf einmal entsteht ein Dialog, in dem die verschiedenen Ansichten und Auffassungen sich ausgleichen und für ein gegenseitiges Erstaunen und Entzücken sorgen können.

Vielleicht wird mein Gesprächspartner irgendwann zu dem Schluss kommen: „Ich habe keine Ahnung, was dieser Foerster überhaupt redet.“ „Sehr gut“, sage ich dann, „erfinden Sie etwas!“

Sie wollen sich nicht festlegen lassen.

Ich spiele dieses Spiel der starken Worte und der gegenseitigen Etikettierungen einfach nicht mit. Ein solches Kästchen-Denken macht den anderen zu einem von mir getrennten Gegenüber und stört den Bezug von Mensch zu Mensch, den ich unter allen Umständen aufrechterhalten will.

Um ehrlich zu sein, ist mir fast jeder „dirty trick“ in einer Diskussion recht, um wieder aus einem Kästchen herauszuschlüpfen, in das man mich gerade hineinzupressen versucht.

Ihre eigene Philosophie der radikalen Skepsis braucht existenziell das Gegenüber, die Reibung am Dogma und der Verbohrtheit der anderen Seite. Sollte man so gesehen den Vertretern der „Kästchen-Philosophie“ nicht auch dankbar sein?

Das sollte man vielleicht. Aber ich bin es nicht, da vorgefasste Auffassungen und ein scheinbares Vorverständnis unvermeidlich den Dialog zerstören. Sofort wird ein Club gebildet, man spricht von „Linken“ und von „Rechten“, von „Konstruktivisten“ und „Antikonstruktivisten“ oder irgendwelchen anderen Parteien und Fronten – und angeblich weiß jeder unmittelbar, was gemeint ist und was die Gegenseite denkt.

Das Spiel des Dialogisierens ist damit zu Ende. Und in dem Moment, in dem nicht mehr gespielt wird und in dem Rechthaberei und Feindschaft regieren, erstarrt alles und der große Krieg, was wirklich der Fall ist und wer sich im Besitz der Wahrheit befindet, setzt ein. Deshalb versuche ich immer auf irgendeine Weise, wenn ich mit anderen spreche, den Dialog in Schwung zu bringen.

Sie haben, würde ich sagen, einen subversiven Konstruktivismus entwickelt: eine Art Medizin gegen dogmatische Festlegungen.

Subversiver Konstruktivismus klingt ausgezeichnet (lacht). Aber wie wäre es mit Subversismus? Immerhin ist dann der Konstruktivismus für einen Moment aus dem Spiel, obwohl natürlich das Fundamentalproblem, dass man nun schon wieder ein neues Label für das eigene Denken propagiert, bestehen bleibt.

Ich kann es nur immer wieder betonen: Derartige Etikettierungen stören den Dialog und erzeugen eine mentale Taubheit zweiter Ordnung. Die Blockade des Zuhörens und der Wahrnehmung ist dann fundamental und ziemlich schwierig aufzulösen: Man hört ja nicht, dass man nicht hört, und sieht nicht, dass man nicht sieht, ist taub für die eigene Taubheit und blind für die eigene Blindheit.

Ihnen geht es, wenn ich richtig verstehe, stets darum, auf neue, auf andere Möglichkeiten der Wahrnehmung aufmerksam zu machen, das Blickfeld zu erweitern, ohne jedoch für eine bestimmte Sicht der Dinge zu werben.

Ich würde gerne eine Art Möbius-Schleife im Denken sehen: dass das Denken vom Denken gedacht wird – diese Selbstreferenz und Selbstkreativität würde ich gerne fühlbar machen.

Wenn ich Sprache beschreibe, so muss mir klar sein, dass ich dies mit Hilfe der Sprache tue; die Sprache, die ich verwende, um die Sprache zu beschreiben, hat dieselben Eigenschaften wie die Sprache, die ich jetzt beschreibe. Das Gesprochene wird innerhalb der Sprache kreiert.

Auch der Konstruktivist, der vom Konstruktivismus spricht, würde dann auf irgendeine Weise sichtbar machen, dass er eine Konstruktion verwendet und auf konstruktivistische Weise über seine Konstruktion des Konstruktivismus Rechenschaft ablegen, die eben das implizit offenbart und im anderen entstehen lässt, wovon gerade die Rede ist.

Aber man kann doch nicht jeden Satz mit der Vorrede beginnen, dass alles Gesagte eine Konstruktion ist. Das wäre etwas umständlich. Welche Sprachform entwickelt man dann, die stets diese Offenheit, diese geistige Flexibilität, bewahrt?

Man kann diese andere Sprache nur sprechen und einen Dialog beginnen. Erst durch den anderen werden doch die eigenen Annahmen überhaupt bedeutungsvoll, gewinnt das Gesprochene einen Sinn und eine Lebendigkeit, erfährt man, welche Konsequenzen sich aus den seltsamen Grunz- und Zischlauten, die ich gerade eben produziert haben, ergeben. Erst wenn ich dem anderen sehr genau zuhöre, verstehe ich, ob ich verstanden worden bin. Aus dem Interesse am Rechthaben wird der Versuch, zuzuhören und zu verstehen.

Erst aus dem Mund des anderen höre ich ja, was ich eigentlich gesagt habe, und sehe mich selbst mit den Augen des anderen. Es ist, so behaupte ich, der Hörer, nicht der Sprecher, der die Bedeutung einer Aussage bestimmt. Als ich diese Idee einmal mit viel Pomp auf einem Kongress präsentierte, saß ein guter Freund von mir im Publikum. „Das ist doch Unsinn!“, rief er. „Sehen Sie“, sagte ich, „der Hörer bestimmt die Bedeutung einer Aussage.“ Alles hat gelacht.

Was passiert, wenn die Verflüssigung des Denkens erreicht ist und die Gewissheiten seltsam unscharfe Ränder bekommen haben? Was geschieht dann?

Dann wird man nervös und fragt sich: Was ist hier eigentlich los? Was will dieser Foerster? Warum macht er blöde Witze und erzählt Geschichten, wenn es doch um ernste und gewichtige Fragen geht? Und auf einmal, wenn diese Nervosität da ist, werden die unglaublichsten und die amüsantesten Sachen gesagt, die Sätze fliegen nur so hin und her. Und plötzlich beginnt man, zusammen zu tanzen, erspürt gemeinsam den nächsten Schritt und verschmilzt mit den Bewegungen des anderen zu ein und derselben Person, zu einer Wesenheit, die mit vier Augen sieht.

Wenn dann die Sprechenden in dieser Weise harmonieren, weiß mit einem Mal niemand mehr, wer der Führende ist, denn die Zweiheit fließt jetzt wie eine Einheit dahin.

Viele Ihrer Bücher sind Gesprächsbücher; zahlreiche Ihrer Artikel und Aufsätze sind eigentlich verborgene Dialoge, Antworten auf konkrete Anforderungen und die Fragen anderer. Das heißt, dass die Form des Dialoges in irgendeiner Weise auch eine zentrale Botschaft enthält, die sich in Ihrem Denken findet.

Das stimmt, ja. Die Form ist die Botschaft und die Botschaft ist die Form: In einem Dialog, den man nur als Form akzeptiert, wenn eben auch eine bestimmte Botschaft erzeugt werden soll, wird die wechselseitige Verbundenheit und die Fülle möglicher Wirklichkeiten zur Erfahrung.

Man ist kein scheinbar neutraler Beobachter mehr, der von einem merkwürdigen Locus observandi aus – frei von persönlichen Einflüssen und seinem individuellen Geschmack – eine von ihm getrennte und unveränderlich erscheinende Wirklichkeit betrachtet. Das, was man Wirklichkeit nennt, wird zur Gemeinsamkeit und zur Gemeinschaft, die man zusammen mit anderen kreiert.

Der vergangene Woche verstorbene Physiker und Mathematiker Heinz von Foerster schrieb mit Bernhard Pörksen das Buch „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“. Die taz hat Pörksen gebeten, noch unveröffentlichte Gesprächspassagen zur Verfügung zu stellen – als Hommage an einen großen Dialogiker.

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