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Medea macht Urlaub

Selbstverständlich unverständlich: Die französische Schriftstellerin Véronique Olmi erzählt in ihrem Roman „Meeresrand“ von einer Mutter, die ihre Kinder ermordet

von EVA BEHRENDT

Eine Frau packt ein. Sie nimmt die Koffer und ihre beiden Söhne, der eine neun, der andere fünf, und steigt in den Bus, der sie ans Meer bringt. Es regnet. Sie bezieht ein billiges Hotelzimmer, schläft dort so tief wie nie zuvor. Am nächsten Morgen zeigt sie den Söhnen das graue Meer, zählt die wenigen Francs, die ihr noch bleiben, bezahlt davon zum Frühstück Coca-Cola im Café und abends zwei Portionen Pommes auf dem Rummelplatz. Eine davon fällt in den Matsch. 24 Stunden vergehen, in denen der Versuch, den Kindern ein letztes Fest zu bereiten, auf der ganzen Linie scheitert. Dann erstickt sie sie nacheinander mit dem Kopfkissen.

Warum hat Medea ihre Kinder getötet? Um Rache an Jason zu üben, der sie verriet? Oder am Patriarchat? Weil sie sich als Ausländerin fremd fühlte? Sah sie in der vermutlich nicht unterhaltspflichtigen Antike für die Kinder keine Zukunft? Oder ist alles ein großes Missverständnis? Die Faszination des Unbegreiflichen mündet zwangsläufig in die sinnstiftende Konstruktion seiner Kontingenz, historisch, gesellschaftlich, psychologisch. Die künstlerische und wissenschaftliche Tradition von Mythenadaption und -exegese reicht von Grillparzer über feministische Literaturseminare bis zu Christa Wolf.

Die Französin Véronique Olmi (Jahrgang 1962, zwei Töchter) erzählt in ihrem ersten Roman „Meeresrand“ keine Neuauflage des Falls Medea, sondern minutiös die (Vor-)Geschichte eines doppelten Kindsmords aus der Introspektive der Mutter. Trotzdem durchbohren und unterhöhlen die Fragen, die der Mythos aufgeworfen hat, diesen knappen Text. Denn Véronique Olmi entzieht sich konsequent der Kontingenz, indem sie das Motiv verschweigt: Die Tat ist selbstverständlich unverständlich. Die Stimme der Ich-Erzählerin ringt nicht mit sich, ihr Entschluss scheint längst gefasst. Alle Konzentration lastet auf der Gegenwart, wühlt in dem nervösen Zittern zwischen überbordender Liebe und Kapitulation vor der Depression, auf dem bleiernen Tag, der nicht verstreichen darf und doch in jeder Minute beweist, dass sie als Mutter versagt. Damit scheint „Meeresrand“ verwandt mit einigen Schockern jüngerer französischer Literatinnen, die in ihren drastischen Darstellungen von Weiblichkeit, Sex und Gewalt deskriptiv statt analytisch verfahren.

Allerdings beschreibt Olmi – einer klaren, mehr protokollarisch als poetisch inszenierten Sprache zum Trotz – nicht kühl und distanziert, sondern pflanzt sich mit erschreckender Einfühlung in das Hirn der Mutter. Und hinterlässt auf 117 Seiten doch verwischte Spuren, die zur Biografie dieser Frau führen. Sie arbeitet nicht, lebt allein mit den Kindern, die von verschiedenen Vätern stammen, bezieht Sozialhilfe und wird gelegentlich vom Jugendamt besucht. Schemenhaft tauchen die Lehrerinnen und Kindergärtnerinnen auf, engagierte Ersatzmütter, denen sie dankbar, hilflos und eifersüchtig zugleich gegenübersteht. Möglich, dass ihre Männer Schweine waren oder ihre Kindheit ein Albtraum, doch daran denkt sie nicht am Tag vor der Nacht, in der sie ihre Jungs umbringt. Stattdessen beobachtet sie aufmerksam und zärtlich ihre beiden Söhne, deren Verschiedenheit und Einzigartigkeit, und sich selbst im Verhältnis zu den beiden: „… er (der ältere Sohn) ging langsam wie jemand, der nachdenkt, der sich müde voranschleppt. Ich hätte in seinem Schädel sein wollen, ganz tief in seinem Inneren, niemand sollte diese Stelle einnehmen, es war meine Stelle, ich war die Erste … na ja, die Erste vielleicht nicht, aber doch, ja, die Erste … ich bin in ihm, ich bin in seinem Inneren, auch wenn er es nicht weiß.“

Entlang der schmalen Ereignisse des letzten Tages wiederholt Olmis Erzählerin zwanghaft die Erfahrung, unter der Verantwortung für sich selbst und andere zusammenzubrechen und systematisch den Kampf gegen die eigene Schwäche zu verlieren. „Meeresrand“ entfaltet einen unerbittlich depressiven Sog, ein kalkuliert pathetisches Spiel mit der Ahnung, dass etwas Furchtbares geschehen und man nicht verstehen wird, weshalb. Das ist der Haken im Sinne des politisch und moralisch Korrekten. Psychische Krankheit, Asozialität und Lebensuntüchtigkeit stehen in „Meeresrand“ bedingungslos zur Debatte, während die feindlich, kalt und anonym gezeichnete Umwelt klar als subjektiv wahrgenommene vermittelt, also keineswegs zur Verantwortung gezogen wird.

In der feministischen Theorie wurde die Kindsmörderin zeitweise zur autonomen, großen Irrationale erhoben – immer in Bezug auf den angeblich „männlichen“ Logos. Bei Olmi endet dieser Mythos insoweit, als das Außerordentlichste weiblicher Gewalt – die Gewalt gegen das „eigene Fleisch“ – letztlich als logische Selbstbestrafung auftaucht. Die Gesellschaft indessen ist da nur noch der müde Schatten hinter einer Norm, die festlegt, was und wie eine Mutter sein sollte. Auch deshalb verzichtet Olmi sowohl auf ein Urteil als auch auf eine Entschuldigung, sondern beobachtet ihre Erzählerin so behutsam, achtungsvoll und verzweifelt wie diese Mutter ihre Kinder. Zuletzt erstickt sie sie.

Véronique Olmi: „Meeresrand“. Aus dem Französischen von Renate Nentwig. Verlag Antje Kunstmann,München 2002. 117 S. 14,90 €

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