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Enten schnattern lassen

Immer auch der Mythos vom Mythos: „Tocotronic“ zogen eine Menge Epigonen nach sich, heute in der Großen Freiheit werden sie allerdings vom völlig unverdächtigen Turner begleitet

Es gibt Menschen, die die Kommunikation eines ganzen Tages mit Zitaten der Band bestreiten

von MARKUS FLOHR

Es gibt Menschen, die behaupten, Tocotronic seien nur mit einem gut sortierten Handapparat geisteswissenschaftlicher Literatur zu verstehen. In der Filmgeschichte müsse man sich zudem auskennen, ratsam seien auch universitäre Abschlüsse in Philosophie, Politik oder Kunstgeschichte.

Es gibt auch Menschen, die die Kommunikation eines ganzen Tages mit Zitaten der Band bestreiten, denen noch zum angebrannten Essen nicht mehr einfällt als „Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“ oder „Du bist ganz schön bedient“. Schließlich gibt es Menschen, die die drei Hamburger für eine Antwort auf die US-amerikanische Rocklegende Nirvana und Dirk von Lowtzow, den Sänger von Tocotronic, für den Spokesman einer jugendlichen Generation zwischen X und @ halten. Die Zeit nannte sie einmal „Die letzten Guten“, der Fernsehsender Viva wollte ihnen den Musikbizpreis „Comet“ verleihen; die Tocotronic-Art, Alltag zu vertonen und ihre Instrumente dabei (nicht) zu beherrschen, ist stilbildend geworden und zog so manche Epigonen nach sich.

Schon früh kommentierte das Trio solch Verehrung auf ihre Weise: „Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk“, hieß es auf dem ersten Longplayer Digital ist besser. Später packten Tocotronic statt ihrer Konterfeis drei Enten auf ein Albumcover, und als auch das nichts nutze, druckten sie Toco-Trading-Cards zum Sammeln und Tauschen und legten sie der Single „Freiburg Version 3.0“ bei. Tocotronic – das war immer auch der Mythos vom Mythos.

Wer dieser Spur folgt, trifft jedoch nicht auf ungebrochene Helden und Fabelwesen der Antike, der mythische Gehalt der Hamburger Schule-Rocker mit den putzigen Frisuren erinnert allenfalls noch an den „Held des Absurden“, den Steine wälzenden Sisyphos. Wenn nun nicht die Musikindustrie der Rat der Götter ist, der Tocotronic zum Kultur-Produzieren wie Sisyphos zum Wälzen verurteilte, dann ist es mindestens der Erwartungsdruck der tanzenden Massen, die auf ihren Konzerten die Texte genauer zu rezitieren wissen als ihre Helden selbst und sie mit Zuneigung und Total-Identifikation liebevoll erdrücken.

Wie der französische Philosoph Albert Camus dem Mythos des Sisyphos dereinst einen positiven Gehalt abzugewinnen wusste, haben auch Tocotronic nicht eine Ladung Schrot (wie Nirvanas Kurt Cobain) oder die sofortige Selbstauflösung (wie diverse andere Bands) als Weg in die Zukunft gewählt. Sie montierten auf ihrem aktuellen Longplayer mit dem kryptischen Titel Tocotronic einfach so viele Hinweis-, Verbots- und Umleitungsschilder, dass der nach Identifikation suchenden Fanmasse die Orientierung im Toco-Kosmos schwer fällt. Handapparate geisteswissenschaftlicher Literatur zu wälzen, bringt da auch nichts mehr; um Tocotronic zu verstehen, sollte man einfach mal zum Konzert gehen und die Enten schnattern lassen.

mit Turner: heute, 20 Uhr, Große Freiheit 36

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