: Flucht in die Postkartenidylle
aus Bischofszell ANNE HAEMING
„Grüezi!“ Carlos Steiner kommt dem Besucher im Treppenhaus entgegen. Die Haustür war nur angelehnt, hier schließt niemand ab. Auf dem Weg durch die Stockwerke fallen die akkurat zurechtgerückten Fußmatten auf – vor jeder Wohnungstür eine. Vor Carlos Steiners Tür wartet ein bunter Comic-Specht auf schmutzige Schuhe. Genauso wenig wie der Name Steiner-Dutli zwischen den Lüthis und Stähelis auf den Klingelschildern auffällt, merkt man María Dutli und ihrem Ehemann Carlos Steiner an, dass sie erst seit vier Monaten in der Schweiz sind. Zum ersten Mal. Und für immer.
Nachdem sich die politische und wirtschaftliche Situation in Argentinien im vergangenen Jahr mehr und mehr verschlimmert hatte, beschlossen sie Anfang des Jahres, ihr Zuhause in der Kleinstadt Río Cuarto zu verlassen und zurück ins Land ihrer Eltern und Großeltern zu gehen (siehe taz vom 15. Februar). Damit gehörten die beiden Mittfünfziger noch zu den Glücklicheren. Denn weil María Dutlis Vater aus der Schweiz nach Argentinien einwanderte, haben sie und ihr Mann Anspruch auf einen Schweizer Pass.
Es ging alles sehr schnell im Februar, das Geld reichte eben mal für zwei Flüge: gerade noch im südamerikanischen Sommer, schon im Schweizer Schnee. Mit der Ankunft in Bischofszell hatte die Hektik ein Ende. Vier Tage Provisorium bei der Schwägerin, dann hatten sie schon eine eigene kleine Wohnung, nur zwei Häuser weiter. Sie sind sich einig: „Es ist hier viel schöner, als wir erwartet haben.“
Bischofszell ist ein kleines, gemütliches Dorf mit knapp 6.000 Einwohnern, wie hingespuckt am Fuße der Appenzeller Berge. Wer dort hin will, fährt über holprige, leere Landstraßen. Links und rechts Postkartenidylle mit saftigen Hügeln, grasenden Kühen und endlosen Apfelplantagen. Oben ist der Bodensee, unten St. Gallen.
Dass in Bischofszell und den Nachbarorten so viele Verwandte wohnen, ist für die beiden von unschätzbarem Wert. Sie können sie alles fragen und mit ihnen ihre Deutschkenntnisse trainieren. Denn die Sprache ist wohl das Einzige, das Carlos Steiner und María Dutli entlarvt. Eine Erziehung mit Rösti, Fondue und einer Portion Schweizer Mentalität prägt zwar, aber ohne Deutsch kommen die Zugezogenen nicht weit, zumindest nicht im Thurgau. Das wissen sie – und pauken Vokabeln. „Die Sprache ist wie eine Wand,“ seufzt die 53-Jährige. Dabei sei Kommunikation das A und O, vor allem, um Arbeit zu finden. Das ist das große Ziel, die Arbeitslosenhilfe verstehen sie als Übergangslösung. „Wiederholen Sie bitte!“, „Hören Sie zu?“, radebrechen die beiden und lachen.
Dreimal in der Woche üben sie sich mit einer Bekannten in Konversation. Überall in der Dreizimmerwohnung sind Wörterbücher verteilt, finden sich in jedem Zimmer ordentlich geheftete Vokabelblätter. Carlos Steiner sammelt Wörter – immer wenn ihm das deutsche Pendant zu einem spanischen Gedanken fehlt, schlägt er nach und ergänzt seine Computerliste. Ein Blick auf den Anfang des Alphabets offenbart, was ihn umtreibt: A wie Anstellung, A wie Arbeitsvertrag.
A wie AHV Suisse ist nicht dabei, diesen Begriff können sie schon lange. AHV Suisse ist die Schweizer Rentenkasse. Seit über 20 Jahren hat María Dutli ihren Rentenbeitrag dort eingezahlt, obwohl sie in Argentinien lebte.
Die Qual mit den Vokabeln liegt nicht nur an der komplizierten deutschen Sprache. „In Gedanken sind wir oft in Argentinien, bei unseren Söhnen, unseren Freunden“, sagt María Dutli. Die aussichtslose Situation des Landes belaste sie. Im Februar hätten sie und ihr Mann gedacht, es könne nicht schlimmer werden, aber seitdem – sie lässt ihre Hand zu einer steilen Talfahrt kippen.
Die Steiner-Dutlis wünschen sich, dass ihre Söhne schnellstmöglich Argentinien verlassen. Maximilian, mit 27 Jahren der Jüngste, hat mit seiner kleinen Familie schon den Absprung geschafft. Der Computerfachmann hat sogar einen Job in Zürich gefunden, die Eltern sind glücklich. Auch der Mittlere, Pablo, arbeitet seit August im Ausland, in Australien. Sie hoffen, dass auch der 35-jährige Eugenio Argentinien den Rücken kehrt und endlich in Sicherheit ist. Ihre Schweizer Pässe garantieren ihnen, was die anderen Freunde nicht haben: die Chance, fortzugehen. Das Land habe keine Zukunft, „no futuro“. „Vielleicht in zwanzig Jahren“, sagt María Dutli. „Vielleicht.“ Sie hebt zweifelnd die Hände.
„Es gibt keine Arbeit, dafür aber 50 Prozent Armut, es gibt kein Geld, nur Gutscheine, wertloses Papier“, sagt Carlos Steiner, der zu Hause seinen Job bei einem Großhändler für Kopierer verlor. „Es gibt keine Sicherheit, nur Lebensgefahr.“ Man lebe mit einer permanenten Anspannung, an Schlaf sei nicht zu denken. „Diese Stille …“, María Dutli schließt die Augen. „Hier konnten wir innerlich wieder zur Ruhe kommen.“ Von Heimweh keine Spur.
Um das festzustellen, reicht es, María Dutlis neuesten Klavierstücken zuzuhören – allesamt übersprudelnd fröhlich. Ihre Arbeit als Komponistin hat sie eigentlich gar nicht unterbrochen, täglich sitzt sie vor Notenpapier und feilt an ihren Jazzliedern. Die Titel hören sich weniger nach Jazz an: „Frühling Schweiz“ oder „Vaterland“.
Kaum etwas in der Wohnung erinnert an das Land, in dem die zwei ihr bisheriges Leben verbracht haben. Außer im Adapter der Stereoanlage oder den spanischsprachigen Computerprogrammen. Doch das sind nur Zufallszeichen aus der alten Heimat. „Das einzige richtige Souvenir“, sagt María Dutli und deutet an die Küchenwand. Dort hängt ein Porzellanteller, darauf ein Fußball, blau-weiße Streifen und die Zahl 1978 – ein Andenken an den WM-Sieg Argentiniens.
Aber die Konkurrenz in der Wohnung ist groß. Der blauweiße Teller kann gegen die rotweiße Übermacht nur verblassen. Im Flur hängt die Schweizerfahne neben einer geschmückten Kuhglocke, eine andere Wand ziert das Bischofszeller Familienwappen der Dutlis, am Schlüsselbund ein weißes Kreuz auf rotem Grund und das unvermeidliche Schweizer Messer. Über die Brüstung des Balkons haben sie eine überdimensionale Flagge gehängt. All die weißen Kreuze auf rotem Grund wären wohl selbst dem stolzesten Eidgenossen zu viel. Sie erinnern ein bisschen an Souvenirs aus einem tollen Urlaub – der nie einer war und keiner sein wird.
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