: Schwere Kost zu weich gekocht
Der Versuch, eine düstere Welt mit komödiantischen Mitteln umzusetzen, verflacht zur Düsternis-Comedy: Florian Fiedler inszeniert Wassilij Sigarews „Plastilin“ als humoreske Heilsgeschichte
Irgendwo in Russland bastelt der 14-jährige Maxim (Patrick Güldenberg) einen Penis aus Plastilin. Damit will er seine Lehrerin Ludmilla Iwanowa (Anne Weber) schockieren. Als sie ihn mit dem Ding vor der Hose im Waschraum erwischt, stopft sie es ihm kurzerhand in den Mund. Maxim kaut und kaut, bis die letzte Spur beseitigt ist. Kaut und schweigt. Nicht nur das muss er schlucken. Er fliegt von der Schule, erntet schuldlos Schläge. Märtyrerhaft erträgt er die Demütigungen im postsowjetischen Plattenbau, niemand steht ihm bei, er hat keine Eltern, keinen Anwalt im Leben, nur eine Oma (Heide Grübl), die er liebt und pflegt. Maxims Funktion: Sündenbock.
Gut und Böse hat der junge Regisseur Florian Fiedler in seiner Adaption des Stücks von Wassilij Sigarew klar verteilt. Das macht den brisanten Stoff verdaulich – um den Preis der Vorhersagbarkeit. Spätestens beim zweiten Treffen mit der engelhaften Tanja (Elisabeth Müller) ist klar: Maxim kann nichts passieren, außer, dass er nach seinem gewaltsamen Tod zusammen mit ihr in ihre sphärische Anderswelt aufsteigen wird. Sigarews Vorlage gibt dem Protagonisten mehr Kontur als ihm Fiedler in seiner Umsetzung zugesteht.
Das hätte der Inszenierung gut getan, die sich auch sonst lieber auf Klischees und klare Typisierungen beruft als sich auf die Problematik des freudlosen Vorstadtlebens einzulassen. Der Schwule (hervorragend: Thomas Kügel) trägt die Finger voller Ringe, Robin-Hood-Bärtchen und – um ihn auch wirklich einordnen zu können – ein Hemd in Tiefrosa.
Zwischen den kurzen Szenen lockert das Ensemble mit russischen Liedern auf, die Alexandra gleich klischierte Sehnsüchte nach der weiten Taiga wecken und zur Verniedlichung neigen: Es ist ja gar nicht so schlimm, die paar Schlägereien, die paar Toten, die paar Vergewaltigungen, der Alltagsfrust – na ja. Ab und zu gibt‘s auch einen Ami-Oldie zu hören, sozusagen als musikalisches Paradigma nach Glasnost.
Der Versuch, eine düstere Welt mit komödiantischen Mitteln umzusetzen, verflacht zur Düsternis-Comedy. Nur die dunklen Holzkästen an den Bühnenwänden erinnern an die öde Weite der Plattenbauwüste. Darin haust die Gesellschaft. Sie schlüpfen durch Luken in ihre Wohnlöcher, wie die Ratten in der Kanalisation. Regina Lorenz‘ Bühnenkonstruktion eröffnet Spielmöglichkeiten auf vier Ebenen. Maxim und sein Judas-Freund Ljoscha (Markus Reymann) rasen darauf herum, Tanja und der Musikant Mika (Lieven Brunckhorst) sitzen einfach da. Spannungsreiche Momente. Allein, sie reichen nicht.
Katrin Jäger
weitere Vorstellungen: 12. Oktober, 8., 12. + 13. November 2002, 20 Uhr, Schauspielhaus, Malersaal
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