: „Weg vom Aussortieren“
Die schulpolitische Sprecherin der PDS hat sich in Finnland Anregungen für die Berliner Schulreform geholt. Siglinde Schaub über Sitzenbleiben, muttersprachlichen Unterricht und Probleme mit der SPD
von SABINE AM ORDE
taz: Frau Schaub, Sie sind gerade zum Pisa-Sieger Finnland gereist. Jetzt wollen Sie den „finnischen Geist“ in das neue Berliner Schulgesetz tragen. Wie?
Siglinde Schaub: Das Denken muss sich ändern. Bildung hat in Finnland einen viel höheren Stellenwert. Dort ist man der Ansicht, dass man es sich nicht leisten kann, auf ein einziges Talent zu verzichten. Die Schulen haben die Grundphilosphie: In Kinder muss man nichts hineinstopfen, sondern man muss finden, was in ihnen steckt, und das herausholen. Und: Jedes Kind kann die Anforderungen, die die Schule stellt, erfüllen. Wenn es ausreichend gefördert wird.
Hierzulande reicht die Förderung offensichtlich nicht. Was muss passieren?
In Finnland werden Fördermaßnahmen für kleine Gruppen, aber auch – wenn nötig – für einzelne Kinder bereitgestellt. Das meiste davon findet in der Klasse statt, wo sich mehrere Erwachsene aufhalten: Lehrer, Assistenten, Sozialarbeiter. Manche Kinder werden zeitweise in einem bestimmten Fach aus der Klasse genommen, um ein ganz bestimmtes Defizit aufzuarbeiten. Das kann nach einigen Tagen schon wieder erledigt sein.
Was heißt das für die Verhandlungen zum Schulgesetz?
Wir müssen über Neuorientierungen nachdenken und nicht weitermachen wie bisher. Aber genau das macht der vorliegende Gesetzentwurf: Da haben wir Auslesemechanismen, frühzeitiges Aufteilen, Sitzenbleiben.
Geht es etwas konkreter?
Ganz wichtig ist natürlich, die Fördermaßnahmen richtig und gut einzusetzen. Sie müssen so früh wie möglich einsetzen, schon in der Kita …
… wo Rot-Rot gerade Personal gekürzt hat …
… dann müssen wir über Sitzenbleiben reden. Die Finnen sagen: Sitzenbleiben können wir uns nicht leisten, das ist zu teuer. Das gilt für Berlin natürlich auch. Das Geld kann man besser für Fördermaßnahmen einsetzen.
Wollen Sie Sitzenbleiben abschaffen?
Ganz abschaffen kann man es nicht. Aber es sollte die Regel sein, dass Kinder aufsteigen und nur im begründeten Ausnahmefall eine Klasse wiederholen. Zum Halbjahr zeichnet sich doch ab, welche Kinder das Klassenziel möglicherweise nicht erreichen. Da müssen spätestens die Fördermaßnahmen einsetzen. Es muss für diese Kinder einen individuellen Lernplan geben, wie sie es schaffen können.
Individuelle Förderung ist teuer, Berlin ist pleite.
Sitzenbleiben ist viel teurer. Die Kinder wiederholen die Klasse, vergrößern die Klassenfrequenz und müssen gefördert werden. Also kann man auch früher damit anfangen. Natürlich ist es ein Aufwand für Lehrerinnen und Lehrer. Die Lehrerarbeitszeit muss anders organisiert werden.
Wie?
Die Lehrer müssen von dem ganzen Verwaltungskram entlastet werden. Wir müssen prüfen, ob Klassenarbeiten tatsächlich in diesem Umfang geschrieben werden müssen, und auch, ob Deutsch- und Sportunterricht in Sachen Arbeitszeit gleich bewertet werden können.
Heißt das: Mehr Stunden für Lehrer, die nicht so stark durch Korrekturen belastet sind?
Darüber muss man reden.
Was steht mit Blick auf das Schulgesetz noch konkret an?
Die äußere Leistungsdifferenzierung in der Grundschule, die ist mit uns nicht zu machen …
… also die Aufteilung der Kinder in der 5. und 6. Klasse in leistungsstarke und leistungsschwache Gruppen in Deutsch, Mathe und einer Sprache.
Das ist Sortieren, das muss weg. Die Finnen fördern die guten und die schwachen Schüler gemeinsam in einer Klasse. Da müssen wir hin.
Die äußere Leistungsdifferenzierung ist ein Kernstück der Grundschulreform von SPD-Bildungssenator Böger. Davon wird er nicht abgehen.
Das muss man abwarten.
Sie wollen den muttersprachlichen Unterricht stärken.
Ja. Berlin hat ein riesiges Defizit. In Helsinki werden 52 Sprachen als Muttersprache unterrichtet, die Kinder haben dort ein Recht auf diesen Unterricht.
Wollen Sie das durchsetzen? Das Recht auf muttersprachlichen Unterricht?
Nein, aber wir müssen einen Anfang machen, zum Beispiel mit den großen Sprachgruppen. Wir könnten den Schulen doch die Chance geben, zu entschieden, mit welcher Sprache sie anfangen. Auch das ist mehr Eigenverantwortung für die Schule, die PDS und SPD wollen.
Aus Angst, dass ihnen die deutschen Kinder weglaufen, schaffen die Schulen muttersprachlichen Unterricht ab.
Man muss ihn festschreiben.
Das wird Böger nicht zulassen. Er lehnt diesen Unterricht unter anderem deshalb ab, weil er nicht finanzierbar sei.
Das Grundproblem ist doch eher, dass der Wille nicht da ist.Weniger Probleme gibt es bei der Festschreibung von Standards für die Jahrgangsstufen.
Was heißt das genau?
Wir wollen, dass ein mittlerer Schulabschluss für alle Kinder an allen Schulen gleich sein soll. So hätte man einen Standard für die zehnte Klasse bestimmt. Wer diese Anforderungen schafft, egal auf welcher Schule, hat einen mittleren Schulabschluss. Wer darunter bleibt, hat nur einen Hauptschulabschluss.
Wo ist dann noch der Unterschied zwischen Hauptschülern und Gymnasiasten?
Dann kann man fragen, ob die noch sinnvoll sind. Zuvor eine Grundsatzdebatte zu führen bringt nichts.
Die Finnen haben sich Ende der 60er-Jahre für einen Bruch mit dem gegliederten Schulsystem entschieden. Müsste das auch in Deutschland geschehen?
Aus tiefster Überzeugung: Ja. Aber das geht nicht so einfach. Vielleicht ist diese Debatte auch nicht das Wichtigste. Wenn sich das Denken durchsetzen würde, jedes Kind kann die Schulziele erreichen, wenn es die enstprechende Förderung bekommt, dann wäre schon viel gewonnen.
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