tellerrand: Junge, komm bald wieder
Casino Westhafen
Zwei Männer in dicken Regenjacken sind die einzigen Gäste. Sie sitzen beim Fenster, schlürfen schwarzen Kaffee und sehen dem Regen zu, der gegen die Scheibe prasselt.
„Das kommt von Norden!“, sagt der eine. „Da muss ich hin!“, sagt der andere, „Rotterdam!“ – Mehr Worte brauchen die Männer nicht. Sie sitzen im „Casino“, der Hafenwirtschaft des Westhafens. Schiffslampen baumeln über ihren Tischen, in den Netzen an den Wänden haben sich Hummer und Muscheln verfangen, auf dem Tresen liegt ein kupferner Taucherhelm, der an die Abenteuerfahrten von Käpt’n Nemo erinnert.
Aus den Bullaugen an den holzgetäfelten Wänden blicken treue Seehundaugen und das Fernweh bärtiger Kapitäne, und während im einen Fenster ein hölzerner Delfin durch den verstaubten Rhododendron taucht, wartet im anderen ein Dreimaster auf große Fahrt. Doch auf der Musikbox voller Shantys liegt das Road Journal, und draußen rollen nicht die Wogen des Ozeans heran, sondern die LKWs übers Pflaster.
Im „Casino Westhafen“ spiegeln sich Vergangenheit und Zukunft. Das deftige Frühstück ist eine Reminiszenz an die Vergangenheit. „3 Rühreier mit Brötchen“, „mit Speck und Brötchen“, „mit Schinken und Brötchen“, „mit Tomate und Brötchen“, oder „mit Champignons, Tomate, Speck, Schinken und Brötchen“. Der Matjes, der Leberkäse und der Hackepeter, die Gulaschsuppe, die Leber mit gerösteten Zwiebeln und das Kartoffelpüree und die Bratklopse mit Rosenkohl: Erinnerungen an jene Zeiten, als es noch keine Trauben zum Käsefrühstück und keine Kiwi zum Frühstücksei gab.
Und so ahnt man, wie das einmal gewesen sein könnte, als die Kanalschiffer hier morgens ihren Kaffee schlürften und sich übers Eis unterhielten, das sie schon seit Tagen im Hafen festhielt. Heute sitzen ihre Nachfahren, die LKW-Fahrer, vor den großen Tellern und blicken auf ihre Uhren. Und die Menschenleere im großen Saal ist ein Blick in die Zukunft. Denn außer den Fahrern verirrt sich nur noch selten jemand auf das Gelände mit dem Pförtner am Eingang und den Schienensträngen zwischen dem Kopfsteinpflaster. Gegen Mittag kommen die letzten noch verbliebenen Hafenarbeiter, einige Angestellte der Behala, und manchmal ein Schiffsführer.
Trotz dieser verlockend großen Portionen deutscher Seemanns- oder Hausmannskost, die so selten geworden ist im neuen Berlin und als deren klägliches Relikt meist nur das Eisbein blieb. Dabei liegt das „Casino“ im Hafen einer großen Stadt. Es ist nicht Rotterdam und nicht Schanghai. Aber im Sommer riecht es nach Brackwasser und Öl, an lauen Abenden treiben sich Katzen, Ratten und Liebespärchen auf den Kaimauern herum. Und morgens um sechs sitzen die LKW-Fahrer vor ihrem pechschwarzen Kaffee. „Um 19 Uhr soll ich da sein! Schaff ich nie mit der Kiste!“ – „Musste aber. Sonst kannste dir ’nen neuen Job suchen!“ Mehr Worte brauchen die Männer nicht. HANS KORFMANN
Casino Westhafen, Westhafenstraße 1, Tel. 3 95 31 60, Mo–Di 6–18 Uhr, Fr 6–15 Uhr
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